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1. Aus dem Menschenleben.
_ 1. Gebet.
Herr, den ich tief im Herzen trage, sei du mit mir!
Du Gnadenhort in Glück und Plage, sei du mit mir!
Im Brand des Sommers, der dem Manne die Wange bräunt,
wie in der Jugend Rosenhage sei du mit mir!
Behüte mich am Born der Freude vor Übermut,
und wenn ich an mir selbst verzage, sei du mit mir!
Dein Segen ist wie Tau den Reben; nichts kann ich selbst;
doch daß ich kühn das Höchste wage, sei du mit mir!
O du mein Trost, du meine Stärke, mein Sonnenlicht,
bis an das Ende meiner Tage sei du mit mir! Cmanuel Geibel.
2. Ein Gesang über den Wassern.
Nach Amerika zogen vor Jahren vom Rhein her zwei Bauers¬
leute, denen es in der Heimat nicht mehr wohl gefiel. Sie waren
schon wochenlang auf dem Weltmeer, wo man keinen grünen Wald
sieht und keinen Kornacker, und des Morgens kräht kein Hahn, und
des Mittags bläst kein Hirt. Wenn manchmal ein Vogel sich zeigt, so
ist's keine Schwalbe, die den lieben Sommer verkündigt, auch keine
Lerche, die einem auf dem Felde singen hilft im goldnen Sonnen¬
schein, sondern ein Sturmvogel, der ein böses und brausendes Wetter
ansagt. Auch hat man da keinen festen Boden unter den Füßen
wie hinter dem Pfluge; sondern das Schiff wankt und schwankt, und
es wird einem an Leib und Seele sterbensweh dabei. So geht's alle
Tage; droben sieht man nur den unendlichen Himmel und drunten
das weite, weite Gewässer.
Nun gefielen zwar anfänglich unsern beiden Landsleuten die
Meereswunder nicht wenig; denn alles Neue lockt und reizt des Men¬
schen Herz. Aber als es alle Tage dasselbe gab und die Reise kein
Ende nehmen wollte, ward ihr Mut gar gering. Sie saßen oft bei-