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Mittel-Europa.
hat er stets ausgebildet, und er trägt die Freiheit persönlicher Ansicht auch auf da5
kirchliche Gebiet über. Selbst die Bauart seines Hauses hat er vielfach modificirt und
modernisirt und in manchen Theilen der Marschen gibt es keine Volkstracht mehr.
Der Binnenbewohner dagegen ist schlicht und einfach geblieben; Volkstracht und Bau-
art der Gehöfte bleiben unverändert; statt des politischen kultivirt er mehr das religiöse
Gebiet. „Solche Freiheitskämpfe, wie sie die Stediuger und Wurster im Mittelalter
ausgefochten, dürfen wir nur vou Marschbewohnern erwarten, dagegen ist auch die
großartige Eutwickelung der Mission, wie sie von Hermannsburg (im Lüneburgischen)
ausgegangen, nur in einem Haidedorfe möglich" (Rüge). —
Beschäftigungen in den Marschen sind vorzüglich Viehzucht, Ackerbau, Fischerei,
auch Seehandel. Friesisches Rindvieh ist berühmt, ebenso Butter und Käse. Auch die
schweren Pferde, die man in großer Zahl aufzieht, kommen ins Ausland. Bloß das
jetzige Ostfriesland verkauft jährlich über 44,000 Faß Butter, über 4 Millionen Pfund
Käse, 4500 Stück Rindvieh und 3400 Pferde.
Friesen ist der uralte Name alles deutschen Küsten- und Jnselvolkes vom Aus«
flusfe des Rheins bis östlich der Wesermündung. Ja um die Mündung der Eider, also
an der dänischen Grenze, hießen die Strand- und Inselbewohner Nordfriesen. Jetzt
gehört der Nameu nur noch den Friesländern in Nordholland und den Ostfriesen im
unteren Emsgebiet. Durch die nahen Moore und Haiden, wie durchs Meer von den
Menschen geschieden, blieb diesem Volke viel Alterthümliches und Eigenes in Lebensart
und Sprache. Es ist aufrichtig und grade, bedächtig, dienstfertig und sparsam, und hat
länger als die meisten übrigen Deutschen an den Rechtsamen und Bräuchen altgermani-
scher Vorzeit festgehalten. Freies Gehöfte und persönliche Selbständigkeit galt dem
friesischen Manne mehr als das Leben. Edler freier Friese! war der schönste
Gruß, womit einer den andern empfing. Wie sie das Joch der Römer nicht geduldet,
so warfen sie auch das fränkische ab und schlössen zu besserer Abwehr den Bund der 7
Seelde, der im 11. Jahrh. die einzelnen Gemeinden an der Nordsee vereinte. Ein alter
Baum unweit Aurich ward zur Stätte des gemeinschaftlichen Upstals d. h. Obergerichts
uud Landtags bestimmt, und lange Zeir standen die Freiheiten aufrecht wie der Upstals-
bom, trotz der herrschsüchtigen Angriffe der Nachbarn, denen nur gelang, die Stedinger
zu vernichten und die Mündung der Weser zu erobern. Was indes äußere Feinde nicht
vermochten, that Uneinigkeit im Innern. Ehrgeizige Häuptlinge strebten nach der Herr-
schaft uud bestritten einander so lange, bis im 15. Jahrh. das Haus Cirkseua von
Greetsihl die Oberhand und 1463 die fürstliche Würde erhielt. So verlor sich die
Häuptlings-Verfaffung. Dagegen kam Ruhe unters Volk, das an seinem Vaterlande
trotz der Seestürme nn oes neblig feuchten Klimas mit ganzer Seele hängt. Als
1744 das Haus Cirkseua ausstarb, fiel Ostfrieslaud an den preußischen Staat, zu dem
es seit Einverleibung Hannovers jetzt wieder gehört. — Um das altfriesische Recht und
die Geschichte des Landes hat sich der wackere Wi arda sehr verdient gemacht.
Orte im Gebiet der untern Weser: Celle mit 17,000 E. an der Aller;
sein Dichter E. Schulze starb leider zu juug. Auf der Haide von Sievershausen/
3 Mln. südl. von Celle, fiel Kurfürst Moritz von Sachsen als BuudeSgenoß Heinrichs
von Braunschweig in der Schlacht gegen Markgraf Albert von Baireuth 1553 den