Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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haben bekanntlich niemals vernünftigen Grund, mithin wäre es lächer¬ 
lich gewesen, da mit Worten zu widerlegen, wo das Werk deutlicher sprach. 
Im Sommer 1812 wurden zugleich mit dem Turnplatz die Turn¬ 
übungen erweitert. Sie gestalteten sich von Turntag zu Turntag viel¬ 
facher und wurden unter fteudigem Tummeln im jugendlichen Wettstreben 
auf geselligem Wege gemeinschaftlich ausgebildet. Es ist nicht mehr genau 
zu ermitteln, wer dies und wer das zuerst entdeckt, erfunden, ersonnen, 
versucht, erprobt und vorgemacht hat. Von Anfang an zeugte die Turn¬ 
kunst einen großen Gemeingeist und vaterländischen Sinn, Beharrlichkeit 
und Selbstverleugnung. So ist es noch. 
Beim Aufruf des Königs vom 3. Februar 1813 zogen alle wehr¬ 
haften Turner ins Feld, und die Sache stand augenblicklich wie verwaist. 
Stach langem Zureden gelang es mir in Breslau, einen meiner ältesten 
Schüler zu gewinnen, daß er während des Krieges an meiner Stelle das 
Turnwesen fortfiihren wollte. 
Wenn auch zuerst nur einer als Bauherr den Plan entworfen hat, 
so haben doch Meister, Gesellen, Lehrlinge und Handlanger treu und red¬ 
lich gearbeitet und das Ihrige mit Blick und Schick beigetragen. Das ist 
nicht ins einzelne zu verzetteln. Auch soll man nicht unheiligerweise 
Lebende ins Gesicht loben. 
Berlin, den 31. März 1816. F. L. Jahn. 
14. Das Loch im Ärmel, 
Ich hatte einen Spielgesellen und Jugendfreund, namens 
Albrecht, erzählte einst Herr Marbel seinem Neffen Konrad. Wir 
beide waren überall und nirgend, wie nun Knaben sind, wild, 
unbändig. Unsre Kleider ivaren nie neu, sondern schnell besudelt 
und zerrissen. Da gab es Schläge zu Hause; aber es blieb beim 
alten. Eines Tages saßen wir in einem öffentlichen Garten auf 
einer Bank und erzählten einander, was wir werden wollten. Ich 
wollte Generalleutnant, Albrecht Generalsuperintendent werden. 
euch beiden wird im Leben nichts!“ sagte ein steinalter 
Mann in feinen Kleidern und weißgepuderter Berücke, der hinter 
unserer Bank stand und die kindlichen Entivürfe angehört hatte. 
Wir erschraken. Albrecht fragte: „Warum nicht?i( Der Alte 
sagte: „Ihr seid guter Leute Kinder, ich sehe es euren Böcken 
an; aber ihr seid zu Bettlern geboren; würdet ihr sonst diese 
Löcher in euren Ärmeln dulden?“ Dabei faßte er jeden von uns 
an den Ellenbogen und bohrte mit den Eingern in die daselbst 
durchgerissenen Ärmel hinauf. — Ich schämte mich, Albrecht auch. 
j> Wenn’s euchsagte der alte Herr, „zu Haus niemand zunäht, 
warum lernt ihr's nicht selbst? Im Anfang hättet ihr den Bock 
mit zwei Nadelstichen geheilt; jetzt ist es zu spät, und ihr kommt 
wie Bettelbuben. Wollt ihr Generalleutnant und Generalsuperintendent
	        
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