Object: Deutsche Lebensbilder und Sagen für den Geschichtsunterricht auf der Mittelstufe höherer Mädchenschulen

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Windung trug, Einhalt zu thun. Keine Aussicht auf Besserung war mehr 
vorhanden, als der Tod des Vaters den Sohn aus den Thron berief. Ans 
ber Fremde, wo er Heilung gesucht hatte, brach er trotz strenger Kälte und 
bem Abraten der Ärzte voll hehren Pflichtgefühls zur Heimat aus. Seine 
letzten Kräfte wenigstens wollte er dem geliebten Vaterlande widmen, dem 
er schon manches Opfer gebracht hatte. Die Unterthemen konnten noch 
Eins von dem geliebter Herrfcher lernen: zu leiden, ohne zu klagen, zu 
sterben in der Erfüllung der Pflicht. Tapfer ertrug er die schwere Schickung, 
nicht mehr ausführen zu können, was er so lange erwünscht hatte, die 
Liebe seines Herzens in Thaten umzuwandeln. 
Am 14. Juni war der Geburtstag seiner Tochter, der Prinzessin Sophie. 
Schon frühmorgens ließ er sie an fein Schmerzenslager treten und über¬ 
gab ihr die Blumen, die er für sie bestimmt hatte, anscheinend ganz heiter 
und froh, wenn er ihr auch feine Segenswünsche nur schriftlich ausdrücken 
konnte. Am folgenden Tage entschlummerte der Held, im Streiten und 
im Leiden groß, zu einem besseren Leben. 
22. Kaiser Wilhelm II. 
1. Kronprinz Friedrich Wilhelm und seine Gemahlin Viktoria hatten 
ihre Kinder von frühester Jugend an in größter Einfachheit erzogen; besonders 
die Mutter hatte sie gern mit dem Leben der Ärmeren bekannt gemacht, 
bamit sie werkthätiges Mitleib lernen sollten. Die beiden ältesten Söhne, 
Prinz Wilhelm (geb. 27. Jan. 1859) und Prinz Heinrich, waren deshalb 
ans das Gymnasium in Kassel gebracht worden, um fern von dem Hofleben 
im Verkehr mit Altersgenossen aus allen Ständen ihre Schulbildung zu 
vollenden. 
Prinz Wilhelm zeigte frühzeitig eine ungewöhnliche Willenskraft, die 
darin hervortrat, daß er trotz einer gewissen angeborenen Schwäche ein 
ausgezeichneter Schütze, Schwimmer und Reiter geworden ist. Alles 
Soldatische zog ihn mächtig an; doch besaß er den Ehrgeiz, nicht (wie andere 
Fürstensöhne) schnell von der untersten Stufe zur höchsten emporzusteigen, 
sondern zuerst gründlich die Pflichten ber unteren Stellungen kennen zu 
lernen. Daburch würbe er fo tüchtig, baß er in allen Lagen bie Anerkennung 
urteilsfähiger Männer errang. Als er bem Prinzen Friedrich Karl, dem 
strengen, wahrheitsliebenden Feldherrn, die Reiter vorführte, welche er selbst 
geschult hatte, brach dieser in den Ausruf aus: „Du hast es gut gemacht! 
Ich hätte es nie geglaubt."
	        
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