Full text: H. A. Daniels Lehrbuch der Geographie für höhere Unterrichtsanstalten

§ 36. Die Staaten der Erde. 
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kurze Strecken wandern; daß schnell wachsende Städte aus ihrer Um¬ 
gebung die Landbewohner scharenweis an sich ziehen; daß die insolge- 
dessen entstehenden Lücken aber durch Einwanderer aus entfernteren Gegen¬ 
den ausgefüllt werden, so daß die Bewegung bis an die Grenzen des 
Staates sich fühlbar macht; daß die städtische Bevölkerung weniger 
wanderlustig ist als die ländliche; daß endlich Frauen mehr wandern als 
Männer. 
Wohl zu unterscheiden von den Völkern, deren Einheit auf der 
Gemeinsamkeit der Abstammung beruht, sind die Nationen, welche 
durch erbliche Namens-, Sprach-, Sitten- und Kulturgemeinschast ihr 
eigentümliches Gepräge erhalten. Erst durch gemeinsame Traditionen 
und Anschauungen gewinnt ein Volk Gemeinbewußtsein und Empfindung 
für Gemeinehre und erhebt sich damit zu einer Nation. 
Nicht minder müssen wir uns vor der Verwechselung von Staaten 
mit Völkern und mit Naturländern hüten. Ein Volk kann mehrere 
Staaten ausmachen (wie die Deutschen oder die Slawen), und wiederum 
können mehrere Völker nur zu einem Staate gehören (so znmak in der 
österreichisch-ungarischen Monarchie). Ein Naturlaud aber ist ein 
solches Stück eines Erdteils, das von den übrigen durch natürliche 
Grenzen, d. H. Meer und Gebirge (denn Flüsse haben 
selten etwas Trennendes) geschieden wird. Diese Grenzen sind 
unverrückbar und überdauern alles Treiben und Jagen der Menschen. 
Ein Staat kann nun zwar auch natürliche Grenzen haben, ja seine sämt¬ 
lichen Grenzen können natürliche sein (z. B. die des Königreichs Gro߬ 
britannien und Irland); aber nur in diesem Falle stimmt das Staats¬ 
gebiet mit einem Naturlande überein. 
Wie die Schicksale der Staaten in Krieg und Frieden wechseln, so 
wechseln besonders oft ihre nur durch Grenzsteine bezeichneten Grenzen, 
welche man, im Gegensatz zu den natürlichen, politische nennt. Un¬ 
zählige Staaten sind schon auf der Erde entstanden und untergegangen; 
denn nichts ist in menschlichen Dingen von ewigem Bestand. Aber immer 
noch ragen die Gebirge, rauschen die Quellen, fließen die Ströme, wogen 
die Meere — Bilder der Ewigkeit gegenüber den vergänglichen Werken 
der Menschen, und doch auch sie vergängliche Werke der ewig schaffenden 
Natur. Auf der höchsten Stufe geographischer Betrachtung wird uns 
ein inniger Zusammenhang zwischen den Naturländern und ihren Völkern, 
ihrer Entwickelung und Geschichte, deutlich: eine Art der Betrachtung, um 
welche sich der große deutsche Geograph Karl Ritter besonders verdient 
gemacht hat.
	        
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