Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen und die Secunda höherer Lehranstalten

in hundert Festungen gespalten, durch mächtige Thore und dicke Mauern ver¬ 
wahrt, und nur durch enge Gänge unter sich verbunden, die sich gleich Trancheen 
und Laufgräben durch sie fortwinden. Alle diese Burgen sind nach jeder 
Richtung sorgfältig geschützt, feste Quadermauern, eisenbeschlagcne Thore, 
große Vorhöfe mußten einen Ueberfall beinahe unmöglich machen, und noch 
jetzt möchte es leicht sein, einen gewagten Handstreich davon abzuhalten. Eine 
Stadt ohne Fenster ist gewiß eine eigenthümliche Erscheinung. Die Oeffnungen 
nach der Straße, welche sie vertreten, sind mit festem, dichtem Holzgilterwert 
verschlossen, dicht genug, um jeden Gegenstand hinter ihnen unsichtbar zu 
machen, und nicht geschlossen genug, um dem Auge des Spähers den Blick 
auf die Straße zu wehren. Kleinere Häuser sind ganz ohne Fenster 
und Gitterwerk, und alle empfangen das Licht von dem oben offenen Hofrauni, 
in dessen Innerem sich das ganze Leben der Wohnung bewegt. 
30. Abessinien. 
(Nach Werner Munzinger.) 
Wer je Abessinien gesehen hat, wird immer mit Bewunderung an dieß 
afrikanische Schweiz zurückdenken, die, am südlichen Ende des rothen Meere-' 
gelegen, schroff gegen dessen Gestade abstürzt, in breiten Terrassen sich über 
10,000' erhebt und deren Gipfel unsern Alpenkönigen nur den ewigen Schnee 
lassen. Die weiten Hochebenen sind durch Klüfte zerrissen; die wilden Winter 
ströme, von tropischem Regen geschwollen, graben sich tiefer und tiefer schauerliche 
Abgründe, und die Zeit erweitert die schmalen Klüfte zu breiten Tiefthälern, 
die mit der Pracht ihrer tropischen Vegetation uns verführen. Aber wehe dein 
Anwohner! Da lauert die geringelte Boa aus dem schmalen Wege; da ist 
das Jagdgebiet des Löwen und der Elefant weidet friedlich; da schreckt dich 
das blasse Fieber aus dem paradiesischen Traum. Die Natur will den Men¬ 
schen hier nicht zum Zeugen ihrer Pracht haben. Und doch wie schön! Das 
hohe schilfige Gras verschlingt den Reiter; nur mühevoll tritt er sich einen 
Pfad, wenn nicht die Elefantenheerde ihn schon geebnet hat. Die weitästige 
Sykomore mit ihrem hochragenden Stamm und den breiten Blättern bietet 
ihre Feigen und ladet in ihren ewigen nächtigen Schatten. Hier ist Urwald; 
hier liegen mächtige Stämme der Verwesung preisgegeben und versperren den 
Weg. Frisch sproßt das. Gras aus der nie abgeräumten, nutzlos verfaulenden 
Weide. Hab' Acht! der Dornenbaum höhnt deine Kleider mit den krummen 
Stacheln, und grausame Disteln und Nesseln verletzen den unbedachten Fuß- 
Wo aber das Thal sich verengt und das Wasser mühsam über die 
Granitblöcke von thurmhohen, senkrechten Schieferfelsen sich einen kurzen Weg 
bahnt, da ist es dunkel fast den ganzen Tag. Hier wird selbst der Vogel 
scheu und stumm, und die am spärlichen Wasser sich labende Gazelle lauscht 
ängstlich auf bei jedem Geräusch in der fluchtwehrenden Enge. Selten wird 
die ewige Stille gestört von dem Geheul der an den jähen Abgrund sich 
klammernden Affen. 
Weh dem, der hier weilt in der Regenzeit! Von langer Fahrt müde, 
bettet sich der Wanderer in dem Thale; er ist von der Hitze erschöpft; selbst 
diese finstern Gründe laden ihn zur Ruhe. Im heißesten Mittag wiegt er 
sich in süße Träume — da erdröhnt es dumpf im Hochgebirge; ein Schuß, 
ein zweiter, dann der schreckliche, den ganzen Himmel durchrasende Donner- 
Doch fürchtet er sich noch nicht, das Gewitter ist ja so ferne. Da erhebt
	        
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