154 Scenen aus dem Volksleben in Ägypten.
und eigentümlicher werde. Aber trotz aller dieser Verletzungen der
Wahrscheinlichkeiten zeigen die orientalischen Erzählungen eine sehr
fruchtbare Erfindungsgabe und sprudeln von Zügen echter Menschen-
natur. Die tiefe und verzehrende Teilnahme, womit die ungelehrten
Araber ihren Erzählungen lauschen, der Halt, den sie im Volks-
herzen des Morgenlandes haben, zeugen für ihren Wert als Erläute-
rungen orientalischen Lebens.
Nach Bayard Taylor.
Reise nach Central-Afrika. Übersetzt von Johann Ziethen.
Scenen aus dem Volksleben in Ägypten.
1. Ein Tag und eine Nacht in Kairo.*)
Kaum ist der äußerste Rand der glühenden Sonnenkugel an
dem welligen Horizont der arabischen Wüste in majestätischer Schöne
emporgetaucht, um mit wunderbarem Purpurlichte die zackigen Gipfel
der Bergkette des öden Mokattam zu übergießen, an dessen Fuße,
in Dämmerung gehüllt, die „hochgeehrte" Stadt der Kalifen in tiefem
Schlummer ruht: da ertönen durch die heilige Stille des Morgens
von den luftigen Minarets zahlreicher Moscheeen die ernsten, feier-
lichen Klänge der Sänger, um den Preis und die Vollkommenheit
Gottes und seines Propheten Mohammed den frommen Gläubigen
zu verkünden. Der Sänger mahnende Worte hörend, daß Gebet
besser denn Schlas sei, öffnen die Muslin ihre Augen, erheben sich
alsbald von dein einfachen Lager, das auf einem niedrigen Gestell
von Palmenstäben ausgebreitet ist und schütteln ihre faltigen Ge-
wänder aus, mit denen sie sich, nach Brauch des Landes, vollständig
bekleidet am vorigen Abend zur Ruhe gelegt haben. Dann wird die
Waschung vorgenommen, weniger aus den natürlichen Rücksichten
für notwendige Sauberkeit, als vielmehr, weil das göttliche Buch
des Propheten, der Koran, befiehlt, vor dem Gebete Gesicht, Hände
und Füße mit Wasser zu reinigen. Nun zieht der fromme Moslin
die Schuhe aus, wenn anders er solche besitzt, tritt auf den türkischen
*) Aus Heinrich Brugsch. Aus dem Orient. Berlin, 1874.