r
- 64 —
Der Russe ist von Natur religiös uud neigt sich zum Mysticismus; das
religiöse Bewußtsein übt aber wenig Einfluß auf das sittliche Leben aus,
desto mehr aber auf das politische; die Kämpfe gegen die Mongolen wurden
als Religionskriege geführt.
Bis 1861 bestand in Rußland die Leibeigenschaft, und diese hat
wesentlich mit dazu beigetragen, den Volkscharakter zu verderben, nämlich
den gemeinen Mann hinterlistig, treulos, rachsüchtig und habgierig zu
machen und ihn zur Trunksucht zu verleiten.
Die Centralbehörden des russischen Reichs sind der Reichs-
rath, der die höchste berathende Behörde ist, der dirigirende Senat,
welcher die höchste Instanz in Justizsachen bildet, der heilige Synod
als die höchste geistliche Behörde der griechisch-katholischen Kirche, und end-
lich das Staats min ist erinm, welchem die ausübende Gewalt über-
tragen ist.
Man unterscheidet in Rußland folgende Stände: 1) den Geburtsadel;
2) den Amtsadel, welcher den Beamten nach ihren Verdiensten und Aemtern
ertheil^ wird, erblich ist und bei feierlichen Gelegenheiten den Vorrang vor
dem einfachen Geburtsadel hat; 3) die Bürger. Diese sind persönlich frei
und stehen unter selbstgewählten Obrigkeiten und Untergerichten; nur die
Polizei wird von Regierungsbeamten verwaltet; 4) den Bauernstand. Znm
Kriegsdienste ausgehoben werden nur Bürger und Bauern, welche in der
Garde 20, in anderen Regimentern 22 Jahre Dienstzeit haben. Die
russische Landmacht besteht aus 780,000 Mann regulärer Truppen mit
2200 Geschützen. Die irregulären Truppen sind die Kofacken vom Don,
von dem asow'schen und schwarzen Meere, vom Kaukasus, vom Ural, von
der sibirischen Linie, von der chinesischen Grenze, von den sibirischen Städten,
im Ganzen 130,000 Mann; endlich giebt es noch 20,000 Mann irreguläre
asiatische Reiterei, aus Baschkiren, Buräten und Kirgisen zusammengesetzt.
Als Seemacht nimmt Rußland die dritte Stelle unter den europäischen
Staaten ein; es besitzt 300 Schiffe verschiedener Art. Die ungeheure
Ausdehnung des Reichs, sowie die Zersplitterung seiner Streitkräfte machen
Rußland weniger gefährlich, als sich nach seiner imposanten Macht sonst
befürchten ließe.
Der Ackerbau, welcher im Mittlern und südlichen Rußland, insbe-
sondere in den Ostseeprovinzen, in Polen und am schwarzen Meere sehr
lohnend ist, steht im Allgemeinen wegen Mangel an Arbeitskräften hinter
dem anderer europäischer Länder zurück. Roggen, Weizen, Gerste, Hafer
und Mais wachsen aber in so reichlicher Fülle, daß jährlich bei nicht hohen
Fruchtpreisen wenigstens für 60 Millionen Franken Körnerfrucht ausge-
führt wird. Die Hafenplätze der Ostsee und des schwarzen Meeres, Riga
und Odessa, verladen das Getreide uud haben das westliche Europa schon
öfter vor vollständiger Hungersnot!) bewahrt. Die gewöhnlichen Obst-
forten gedeihen in Polen, im mittleren und südlichen Rußland, wo auch
Wein, Pfirsiche, Kastanien, Oel- und Maulbeerbäume gedeihen. Im nörd-
lichen Theile von Rußland sind ausgedehnte Waldungen, welche im
Süden fehlen. Die Rindvieh-, Pferde-, Schweine- und Schafzucht ist so
bedeutend, daß von diesen Thieren alljährlich viele Tausende ausgeführt
werden können. In den Steppen des Czaarthums Astrachan giebt es viele
verwilderte Pferde. Für die Bewohner der Polargegend ist das Renn-
thier, welches Nahrung, Kleidung und Bespannung gewährt, von großer
Wichtigkeit. Endlich hat Rußland an Fischen und Pelzthieren (Bären,