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einem Sonnabend, erschien er nicht am Eckfenster. Bald verbreitete sich die
Kunde von seiner ernsten Erkrankung in Berlin und von da aus im ganzen
Lande. Die Besorgnis steigerte sich, als am Abend des 7. März zum erstenmal
eine amtliche Kundgebung über das Befinden des Kaisers veröffentlicht wurde,
in welcher es hieß, daß eine allgemeine Abnahme der Kräfte stattgefunden habe.
Am Donnerstag den 8. März morgens brachte der Reichs⸗ und Staatsanzeiger
die Kunde: „Se. Majestät der Kaiser und König haben eine sehr unruhige
Nacht gehabt, die Kräfte haben noch mehr abgenomnmen.“ Da mußte sich
jedermann auf das Äußerste gefaßt machen. Der Platz vor dem kaiserlichen
Palais unter den Linden bot den ganzen Tag über ein Bild unendlicher
Trauer.
Die Stimmung der Menge wurde immer schwerer, immer düsterer, und
als um 26 Uhr plötzlich die Glocken des Domes und andrer Kirchen zu
läuten anfingen, da machten diese Töne einen geradezu erschütternden Eindruck.
Die wenigsten wußten ja, daß die ehernen Zungen ertönten, um zu einem
Gottesdienst zu rufen, in welchem um Genesung des Kaisers gebetet wurde.
Man hielt die Glockenzeichen für die Verkündiger des gefürchteten Ereignisses,
und tiefe Trauer senkte sich auf die nach Zehntausenden zählende Menge.
Inzwischen war die ganze kaiserliche Familie schon den Tag über um
20 das Sterbelager des teuren Familieuoberhaupts oder doch in der Nähe des—
selben vereinigt gewesen. Sowohl mit dem Prinzen Wilhelm als mit dem
Fürsten Bismarck hatte der Kaiser ernste Unterredungen. Mit klarer Stimme
sprach er mit dem ersteren eingehend über die politische Lage und die Heeres⸗
einrichtungen Deutschlands; er erwähnte, daß man das, was er für das Heer
geschaffen hätte, in Frankreich nachgeahmt habe; dann verbreitete er sich über
Rußland und betonte, wie er davon überzeugt sei, daß es zu einem Kriege
mit Rußland nicht kommen würde, und äußerte sich in freundlichster Weise
über den russischen Herrscher. Die Aufrechterhaltung der Bündnisse mit Oster⸗
reich und Italien soll er noch in seinen letzten Unterredungen als seinen
30 besonderen Wunsch bezeichnet haben. „Den Kaiser von Rußland mußt du
nur recht rücksichtsvoll behandeln, das wird nur gut für uns sein,“ so äußerte
er unter anderm, wohl in der Meinung, daß Prinz Wilhelm bei ihm weile,
zum Fürsten Bismarck. Später sagte er, indem er dem Fürsten Bismarck die
Hand auf die Schulter legte: „Das hast du gut gemacht.“ In die zum Teil
sehr eingehenden und andauernden Gespräche, die der Kaiser mit den um sein
Sterbelager her sitzenden Gliedern des engsien Familienkreises führte, waren
vielfache Erinnerungen aus der Vergangenheit mit eingeflochten. Als die Frau
Großherzogin von Baden an ihn die Bute richtete, sich durch zu vieles Sprechen
nicht zu ermüden, erwiderte er: „Ich habe nicht mehr Zeit müde zu sein.“
40 Des tiefen Schmerzes gedenkend, den die geliebte Tochter selbst erst soeben
erfahren, sagte er, ihre Hand ergreifend: „Ja, ja, mein Kind, du kommst vom
Krankenbette deines Bruders in San Remo, dann hast du deinen Sohn
begraben müssen, und nun“ — der letzte Satz blieb unvollendet. Die Kaiserin
wich fast den ganzen Tag über nicht von seinem Lager. Erst gegen Abend,
als der Zustand etwas ruhiger und der Kaiser eingeschlummert war, verließ
sie für wenige Stunden das Zimmer des Kranken, um sich durch eine kurze
Ruhepause zu dem Schweren, was ihr noch bevorstand, zu stärken. Schon
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