Full text: Deutsches Lesebuch für Prima

Betrachtung der Kunstwerke. 
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und im Wiederholten und Bekannten mannigfaltig und denkend erscheinen 
können. Ich rede hier wie aus dem Munde des Altertums: dieses lehren 
die Werke der Alten, und es würde ihnen ähnlich geschrieben und gebildet 
werden, wenn ihre Schriften wie ihre Bilder betrachtet und untersucht würden. 
Der Stolz in dem Gesichte des Apollo äußert sich vornehmlich in dem 4 
Kinn und in der Unterlippe, der Zorn in den Nüstern seiner Nase, und die 
Berachtung in der Öffnung des Mundes; aus den übrigen Teilen dieses 
göttlichen Haupts wohnen die Grazien, und die Schönheit bleibt bei der 
Empfindung unvermischt und rein, wie die Sonne, deren Bild er ist. Im 
Laokoon siehst du bei dem Schmerz den Unmut, wie über ein unwürdiges 
Leiden, in dem Krausen der Nase, und das väterliche Mitleiden auf den 
Augäpfeln wie einen trüben Duft schwimmen. Diese Schönheiten in einen: 
einzigen Drucke sind wie ein Bild in einem Worte beim Homer; nur der 
kann sie finden, welcher sie kennt. Glaube gewiß, daß der alten Künstler so 
wie ihrer Weisen Absicht mar, mit wenigem viel anzudeuten. Daher liegt 
der Verstand der Alten tief in ihren Werken; in der neueren Welt ist es 
mehrenteilö wie bei verarmten Krämern, die alle ihre Ware ausstellen. 
Homer giebt ein höheres Bild, wenn alle Götter sich von ihrem Sitze er¬ 
heben, da Apollo unter ihnen erscheint, als Kaüimnchos mit seinem ganzen 
Gesänge voller Gelehrsamkeit. Ist ein Vorurteil nützlich, so ist es die Über¬ 
zeugung von dem was ich sage; mit derselben nähere dich zu den Werken 
des Altertums, in Hoffnung viel zu finden, so wirst du viel suchen. Aber 
du mußt dieselben mit großer Ruhe betrachten; denn das Viele im Wenigen, 
und die stille Einfalt wird dich sonst unerbauet lassen, wie die eilfertige 
Lesung des uugeschmückten großen Xenophon. 
Gegen das eigene Denken setze ich das Nachmachen, nicht die Nach- 5 
ahmuug: unter jenem verstehe ich die knechtische Folge; in dieser aber kann 
das Nachgeahmte, wenn eö mit Vernunft geführt wird, gleichsam eine andere 
Natur annehmen, und etwas Eigenes werden. Domenichiuo, der Maler der 
Zärtlichkeit, hat die Köpfe des sogenannten Alexander zu Florenz, und der 
Niobe zu Rom, zu Mustern gewählt; sie sind in seinen Figuren zu erkennen 
(Alexander im Johannes zu St. Andren della Balle in Rom, und Niobe in 
dem Gemälde des Tesoro zu St. Gennaro in Neapel), aber doch sind sie 
nicht ebendieselben. Auf Steinen und Münzen findet man sehr viele Bilder 
aus Poussins Gemälden; Salomon in seinem Urteil ist der Jupiter auf 
makedonischen Münzen; aber sie sind bei ihm wie eine versetzte Pflanze, die 
sich verschieden vom ersten Grunde zeigt. 
Nachmachen ohne zu denken ist, eine Madonna vom Marntta, einen 6 
H. Joseph vom Barocci, und andere Figuren anderswo nehmen und ein 
Cauer, Deutsches Lesebuch. 20
	        
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