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minder mächtig, weil mehr zersplittert und zerspalten, weshalb denn eine
solche Concentrirung der Handelskraft, wie sie bei Antwerpen stattfindet,
verhindert wird. Alle die reichen Landschaften des ganzen innern und
südlichen Belgiens werden auf Antwerpen, als ihren nächsten und natür¬
lichsten Seehafen, hingeführt, und eben so auch, wie ich schon oben an¬
deutete, sogar ein Theil der oberen Rheinlande.
Die Schelde fließt zuerst aus Südwesten, bis sie zwölf Meilen vom
Meere auf einmal in einem rechten Winkel nach Nordwesten umwendet.
Bis zur Spitze dieses Winkels geht die Hauptfluth des Meeres, bis dahin
geht die große Tiefe des Flusses, von da an werden alle seine Proportio¬
nen anders. Und eben in dieser Winkelspitze haben sich die Waaren-
magazine, Märkte und Comptoire Antwerpens angesetzt.
Am besten läßt sich die Schelde, und namentlich ihr unteres Stück,
mit der Themse vergleichen. Auch bei diesem kleinen Flusse findet eine
ähnliche, plötzliche und sehr nutzbare Ausweitung und Austiefung statt;
auch bei ihr ist ein so tiefes Eindringen der Meeresfluth und der See¬
schifffahrt möglich; auch durch sie ist ein wundervoller Seehafen bis in die
Mitte des Landes verlegt; wie auch hier ist im innersten Busen dieses
Hafens eine Welthandelsstadt entstanden, mit der zur Zeit ihrer Haupt-
blüthe nur wenige andere rivalisiren konnten. In den Zeiten, als Ant¬
werpen blühte, im 14. und 15. Jahrhunderte, als es von Tausenden von
Schiffen aller Nationen in seinenl Hafen wimmelte, mochte auch in Bezug
auf Handelsleben die Schelde der Themse gleichen. Jetzt freilich steht die
Schelde hinter der Themse sehr zurück!
Es ist ein Unglück für die kleine Schelde, daß sie mit so gewaltigen
Concurrenten, wie es Maas und Rhein sind, in ein und dasselbe Meeres¬
becken fällt, und daß sie sich mit ihnen bei der Mündung vermischt. Sie
ist dadurch in mehre oder mindere Abhängigkeit von ihnen gerathen. Gäbe
es zwischen den Rhein- und Scheldemündungen etwa in der Richtung der
Insel Schouwen ein tüchtiges Gebirge, so hätten sich gewiß die nördlichen
Niederländer, die Bataver, hinter diesem Gebirge gehalten, und die süd¬
lichen Niederländer, die Flamünder, hätten ihre Scheldemündungen bis
an's Meer bevölkert und beherrscht. Statt dessen ist aber nun hier ein
Archipelagus von Inseln, die, alle ganz flach, sich sämmtlich unter einan¬
der sehr ähnlich sind, und an deren Küsten die Gewässer der Schelde, der
Maas und des Rheins sich der Art mit einander mischen, daß man zu¬
weilen kaum erkennen kann, was dem einen oder dem andern gehört.
Wir sehen daher alle diese Inseln, die wir zusammen unter dem Na¬
men Seeland befassen, zu allen Zeiten und noch jetzt von Niederdeut¬
schen bewohnt, welche leibliche Brüder der Holländer sind und sich eben
so wie diese von den Flamändern unterscheiden. Und eben so sehen wir
diese „Seeländer", diese „Zeeuws", wie die Niederländer sie nennen, bei
allen politischen Bewegungen mehr den holländischen Brüdern folgen, wäh¬
rend die mehr binnenländischen Flamänder von den Wallonen sich hinreißen