Irrfahrten des Odysseus. 93 
den ihm wohlbekannten Bogen, spannte ihn mit Leichtigkeit, untersuchte die 
Spannkraft der Sehne, und — der Pfeil flog durch alle zwölf Öhre. In dem¬ 
selben Augenblicke gab Odysseus seinem Sohne einen Wink; dieser warf schnell 
sein Schwert um, griff zum Speer und stellte sich gewappnet neben den Stuhl 
seines Vaters. Der streifte sich die Lumpen zurück, ergriff den gefüllten Köcher 
samt dem Bogen und sprang auf die hohe Schwelle: hier schüttelte er die Pfeile 
zu seinen Füßen aus und rief in die Versammlung: „Der erste Wettstreit ist 
beendet, nun folgt der zweite, ihr Freier! Ich wähle mir ein Ziel, das noch 
kein Schütze getroffen!" Da saß schon der Pfeil dem Antinous in der Gurgel, 
daß die Spitze aus dem Genick hervordrang und er entseelt niederstürzte. Als 
die Freier nach den Waffen greifen wollten, waren die Wände leer. Mit 
Donnerstimme rief ihnen Odysseus hinunter: „Ihr Hunde, ihr wähntet, ich 
würde niemals zurückkehren; jetzt nahet euer Verderben!" Da erblaßten die 
Freier, ihre Kniee zitterten, vergebens gelobten sie zwanzigfachen Ersatz für das 
verzehrte Gut; jeder Pfeil des Helden streckte einen von ihnen nieder. Eiligst 
war Telemach in die Rüstkammer gesprungen und hatte vier Rüstungen geholt: 
für seinen Vater, für sich, für den Rinderhirten und den Sauhirten. Als 
Odysseus alle Pfeile verschoben, warf er den vierfachen Schild über die Schultern, 
setzte den Helm mit dem fürchterlich nickenden Helmbusch aufs Haupt und ergriff 
zwei mächtige Lanzen. Da bekamen auch die Freier Waffen: der Ziegenhirt war 
durch eine kleine Seitenthür hinaus auf die Rüstkammer geeilt und hatte Waffen 
geholt. Als er aber zum zweitenmal hinauslief, eilten ihm der Sauhirt und der 
Rinderhirt nach, banden ihm Hände und Füße auf den Rücken und zogen ihn 
mittels eines Strickes an einer Säule bis unter die Decke empor. Dann eilten 
sie wieder an die Seite ihres Herrn. Zwar zielten die Freier geschickt und alle 
nur auf Odysseus; doch Athene beschützte ihn vor jedem Wurfe. So wurden 
alle nacheinander hingestreckt, und der ganze Fußboden war mit Leichen bedeckt. 
Kein lebender Feind war mehr zu schauen, nur der Ziegenhirt zappelte noch 
in seiner unbequemen Lage; jetzt holten ihn die beiden Hirten herunter unb zer¬ 
hieben ihn in Stücke. Dann warb bie alte Schaffnerin gerufen. Sie mußte 
bie treulosen Mägbe nennen, es waren ihrer zwölf, unb alle würben aufgehängt. 
Hierauf würben bie Leichen aus bem Saale geschafft, Boben unb Wänbe ge- 
gereinigt, unb das ganze Haus wurde mit Schwefel durchräuchert. 
Erst jetzt ries die alte Schaffnerin Penelope, die während des Mordens 
geschlafen hatte. Anfänglich mißtraute sie noch dem Gemahle; als er aber von 
einem Geheimnisse sprach, das nur ihnen beiden bekannt war, schwand aller 
Zweifel: weinend sprang sie vom Stuhle auf, lief mit offenen Armen auf ihren 
Gatten zu unb umschlang ihn. In ber Frühe des nächsten Morgens ging 
Odysseus mit Telemach aufs Land zu seinem alten Vater Laertes. Die An¬ 
gehörigen der Freier rotteten sich zu einem Rachekriege gegen Odysseus zusammen; 
aber sie ließen sich besänftigen, und so ward zwischen König und Volk der 
Frieden wieder hergestellt. Lange, glückliche Jahre verlebte noch das wieder ver¬ 
einigte Paar.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.