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in ihm spiegelte und wiederum das buntbewegte, großartige Treiben
des Wellhandels zu seinen Füßen sah. Denn der Hafen faßte nicht
weniger als 10,000 Schiffe und war so tief, daß die größten Dreima—
sler in 18 Klafter d. . 34 Meler Wasser gerade vor dem Palaste ganz
er ankern konnten. Zwei Forts, St. Julian und Torre, schützten
en Eingang. Mein die slärkste Vertheidigung des Hafens blieb und
hleibt noch heute die Barre oder die Sandbank, welche sich quer vor
demselben erstreckt und allen Schiffern höchst gefährlich wird, die keinen
erfahrenen Lootsen haben.
J Das war Lissabon bis auf den 1. November 1755 — früh noch
eine der schönsten, reichsten und bevölkertsten Städte und Abends ein
Schutthaufen, ein unabsehbares Leichenfeld. Nichts verkündigte an die—
sem verhaäugnißvollen Morgen die nahe Gefahr. Die Temperatur war
arm, hne drückend zu sein (18 Grad Réaumur), der Himmel wol—
kenlos heller, wie fast immer in den glücklichen Kreisen des europãischen
Sudens Kein Lufichen regte sich. Aer 57 Minuten nach 9 Uhr er—
dröhnte pllich in den Straßen ein tiefes, lang anhaltendes Donnern;
ein furchtbater Stoß folgte, und seine Schwingungen nach allen Rich—
ungen kreuzend, hob und senkte er die Erde mit gewaltiger, wogender
Bewegung, als werde e i Es war gerade der Festtag Allerheiligen,
und die Einwohner hatten sich ahlreich in den Kirchen versammelt, als das
Unglück hereinbrach. Sogleich bei der ersten Erschütterung stürzte
die Patriarchenkirche und die Casa santa, das Haus der Inquisition,
zusammen. Mit ihnen stürzte der königliche Palast; er ward mit al—
len seinen Schaten und Kostbarkeiten von der Erde verschlungen, wäh—
rend glücklicherweise die königliche Familie sich zu Belem, einem reichen
Klostet westlich von Lissabon, befand. Das prächtige Jesuitenkollegium
begrub unler seinen Trümmern alle darin befindlichen Mitglieder der
Gesellschaft. Grbßeres Unglück und ein nicht zu berechnender Verlust
hrach in der Nähe des Zollhauses am Kai aus Hier war der eigent—
liche Slapelplatz des Handels. Hier lagen Millionen in Waaren, und
von Tagesanbruch bis in die Nacht drängte sich hier das regste
Leben. Da bebt die Erde, und binnen einer Minute versinkt dieser
Kai, ohne daß eine Spur des großen Platzes geblieben oder auch nur
eine Schiffsplanke wieder zu Tage gebracht wäre.
Wer wagle das Bild solcher Schreden im einzelnen zu beschrei—
ben? Die Bewohner der Häuser flüchleken auf die Straßen, den Him—
mel um Gnade flehend. Viele suchten einen der offenen Plätze oder
das Freie zu erreichen und rannten zum Theil halbnackt über die Trüm—
mer hinweg. Greise, Frauen, Kinder, Kranke, die noch in ihren Bet—
len lagen, wurden erstickt, zerschmettert, verschüttet. Pferde und Maul—
thiere zerrissen die Stränge und suchten vergeblich mit ihren Reitern
zuͤ entrinnen. Ganze Gruppen, die sich schon geborgen meinten, wur—
den vom Hagel der Ziegelsteine und Werkslücke erreicht oder von dem
Fall erschüterter Gebaude zermalmt. Wohl strebten andere Scharen den
ellenden Strom zu gewinnen, indem sie nach der Terrera de Passa,
dem Vorplate des königlichen Palastes, liefen, um von hier auf die
Schiffe zu elen; aber auch hier keine Rettung; denn der Tajo erhob
sich urplötzlich zu einer Höhe von zehn bis zwölf Meter und stürzte sich