Die Staaten.
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wichtigen politischen Veränderungen während der Geschichte sind mit
räumlichen Veränderungen verbunden. In der Gegenwart ist große Raum¬
auffassung charakteristisch. Die Mächte suchen in allen Teilen der Erde
räumlichen Besitz zu erwerben und dadurch ihre politische Stellung zu
stärken.
Die politische Wirkung weiter und enger Räume ist wesentlich ver¬
schieden. Weite Räume verjüngen nach Ratzel politisch die Völker,
sie mildern die politischen Konflikte und demokratisieren das Staatswesen,
aber sie schwächen auch die kulturelle Kraft, indem sie den geistigen
und materiellen Verkehr erschweren. Staaten von bedeutender räumlicher
Größe sind jedoch im allgemeinen von größerer Dauer.
Im engen Räume kommen die Völker rascher zur politischen Reife,
zu nationalem Bewußtsein. Kleine Staaten entfalten daher früher eine
politische Macht und werden so der Ausgangspunkt für die politische
Ausbreitung, für die Bildung großer Staaten. Freilich hemmt die Raum¬
beschränkung auch die Entfaltung der politischen Kraft. Die Kleinstaaten
altern früher und verfallen leichter.
Der Raum erhält seine politische Bedeutung erst dadurch, daß er
bewohnt ist. Die Bevölkerungszahl ist auch politisch-geographisch
von großem Werte, sie repräsentiert gleichsam eine Summe geistiger
Kräfte. Hiernach ist weiter die Volksdichte ein wichtiger Faktor für die
Staatsentwicklung. Eine dichte Bevölkerung verleiht dem Staate größere
Dauer und Widerstandsfähigkeit gegen fremde Einflüsse. Allein die
Kraft des Einzelnen kommt in der großen Volksmenge nicht so zur
Geltung und Anspannung. Infolgedessen liegt in einer zu dichten Be¬
völkerung auch oft die Ursache für eine Schwächung der Volkskraft in
geistiger und sitttlicher Beziehung. Bei geringer Volksdichte wird da¬
gegen die Kraft des Einzelnen oft bis zum äußersten angespannt, und
das bedingt dann einen raschen Fortschritt, der sich in politischer
Machtentfaltung nach außen betätigt.
Die Folge zu starker Bevölkerungszunahme ist die Auswanderung,
die gleichsam ein Überfließen der Volksmenge nach anderen Gebieten
darstellt. Diese wird allerdings auch wesentlich gefördert durch den
Reiz wirtschaftlicher Vorteile, die das Volk im neuen Wohnräume zu er¬
langen hofft. \ ielfach kommt aber die Auswanderung ebenfalls wieder
dem Heimatsstaate zugute, indem mit der Ausbreitung seiner Bürger
eine neue politische Ausbreitung verbunden ist und die Auswanderer
dem späteren Erwerbe von Kolonien vorarbeiten (Deutschland). Zuweilen
Ule, Erdkunde. 2. Aufl. 90