.§. 961. Die Zeit des heiligen Bundes. 581 
Dichtungen der Romantiker, an der „Epoche der forcirten Talente", so sehr ihm diese 
auch huldigten. Ähre blos empfängliche „dilettantische" Natur, die Alterthümelei und 
Frömmelei, „das Uebersinnliche und Phantastische" ihrer Dichtungen sagte ihm nicht zu: 
er warf sich auf Kunst und Wissenschaft und legte seine Ansichten und Forschungen 
in den Propyläen, in der Zeitschrift Kunst und Alterthum und in seinen Auf¬ 
sätzen über Naturkunde (Farbenlehre) nieder; er versetzte sich in die schöne Zeit der 
Vergangenheit und lieferte in seiner mit unübertrefflicher Kunstvollendung verfaßten 
Selbstbiographie „Dichtung und Wahrheit" (1811 ff.) vortreffliche Beiträge zur 
Erkenntniß der Sitten- und Literaturgeschichte, der Personen und Zustände seiner frühern 
Jahre. Dieses interessante Werk führt uns hauptsächlich den Bildungsgang der 
Goethe'schen Jugendzeit vor die Seele; durch seine italienische Reise und durch 
verschiedene Abhandlungen und Notizen über Kunst und Künstler, z. B. Biographie von 
Hackert, Winckelmann u. dergl., wird uns die wichtige Periode seines italienischen Auf¬ 
enthalts näher gerückt; in der Campagne von 1792, die er als Begleiter seines Her¬ 
zogs in der preußischen Armee mitmachte, erfahren wir seine Schicksale beim Ausbruch 
der Revolution, und bewundern feine Gabe der Auffassung des Einzelnen; in den zahl¬ 
reichen Briessammlungen von ihm und an ihn blicken wir in das Innerste seiner 
Seele, seiner Sinnes- und Denkungsart, und die letzten Reden, Gedanken und Bemerkungen 
des Dichterhelden in Weimar sind uns von Eckermann, Riemer u. A. mitgetheilt 
worden. — Erst später, als ihn das Alter nachsichtiger und toleranter gemacht, versöhnte 
er sich mit der neuen Richtung und stimmte in den Ton und Geschmack der Zeit ein. In 
dem durch Vollendung der Form und durch Plan- und Regelmäßigkeit in Anlage und 
Ausführung ausgezeichneten Roman die „Wahlverwandtschaften" lieferte Goethe 
ein Meisterstück der neuen Novellenliteratur und in der Reihe kleiner Erzählungen, die 
als „Wilhelm Meister's Wanderjahre" erschienen und die „harmonische Orga¬ 
nisation der Gesellschaft" anstrebten, huldigte er dem Märchengeschmack und dem Gefallen 
am Geheimnißvollen und Mystischen. Während der Freiheitskriege, für welche der nun¬ 
mehr alt gewordene Goethe eben so wenig Sympathie empfand, wie für die Revolutions¬ 
begeisterung der frühern Jahre, wendete er wieder dem handelnden und wirkenden Leben 
den Rücken und flüchtete sich in die Beschaulichkeit und in die künstliche Reim- und Form¬ 
poesie des Orients. „Die Ruhe des Alters fühlte sich von jener körperlosen, nebelhaften, 
unsinnlichen Lyrik angezogen; denn schon ehe er seinen west östlichen Divan heraus¬ 
gab (1818), hatte seine eigene Dichtung die ähnliche Gestalt angenommen." Das „Er¬ 
wachen des Epimenides" war nur ein kühler allegorischer Anklang an die Frei¬ 
heitskämpfe der erwachten deutschen Nation. Auch die Wirkungen der von Lord Byron 
begründeten „Poesie der Verzweiflung" erlebte Goethe noch und legte in den zahmen 
Xenien, die von dem klaren Sinne zeugen, den der lebensweife Dichter bis ins hohe 
Alter festgehalten, manche treffende Bemerkung über diese und andere Entartungen der 
deutschen Literatur nieder. Und kurz zuvor, ehe er als drei und achtzigjähriger Greis 
ins Grab stieg, übergab er der Nation im zweiten Theil des Faust einen allego- t 
rischen Rückblick auf sein eigenes Leben und die Umgestaltung seiner Bildung und Dich¬ 
tung von der Zeit an, „wo er ans dem Dunkel der Naturperiode herausgetreten war. 
welche der erste Theil zum Gegenstand hatte". 
In den beiden ersten Acten werden des Dichters Studien der Natur und des Alterthums 
symbolisch angedeutet. In die Tiefe der Natur hinabgetaucht, hat er in den Urbildern der 
Dinge das Ideal gefunden und ist auf hellenischem Boden von einem neuen Gefühl durch¬ 
drungen worden. In dem dritten, prachtvoll ausgeführten Acte wird in der Vermählung Fanst's 
mit Helena die Verbindung des romantischen Dichters mit der Antike dargestellt: „die Frucht 
dieses Bundes (Euphorion) ist die romantische Poesie, ein Genius ohne Flügel, ein 
Gaukler, der in Jcarns' Loose endigt", mit besonderem Bezug auf Lord Byron. Im vierten 
Acte wird die Lage des Dichters der Revolution und Restauration gegenüber, und im fünften 
sein VerhälMiß zur Weltliteratur angedeutet. Durch die göttliche Gnade von Oben und durch 
seine Strebsamkeit und Richtung zum Thätigen wird endlich der Held gerettet.
	        
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