Full text: [Teil 3 = Kl. 6] (Teil 3 = Kl. 6)

gefressen; weißt du, wie er Rotkäppchen fraß? Du weinst doch 
nicht?“ Da gab die Schwester mit leiser Stimme zur Antwort: 
„Ich habe nur ein paar Tränen aufs Bett fallen lassen, aber 
keine auf den Boden. Sei mir nur nicht böse; aber ich konnte 
das Weinen nicht lassen; denn mir war’s vor den Ohren, als 
hörte ich unsere gute Mutter weinen und schluchzen. Du bist ja 
so still, du weinst wohl auch?“ — „Ja,“ flüsterte es im goldenen 
Bette, „mir kam es vor, als hörte ich unsern guten Vater uns rufen, 
und seine Stimme klang so voller Angst und so traurig. Aber ich 
fange alle Tränen mit meiner Hand auf, damit keine auf den 
Boden fällt.“ 
Eine Weile weinten beide still in ihren Betten; endlich fragte 
die Schwester: „Willst du denn für immer König bleiben, und sollen 
wir nie mehr zu unsern lieben Eltern kommen? Das halte ich 
nicht aus, lieber will ich keine Prinzessin mehr sein; ich muß vor 
Sehnsucht sterben, und dann bist du allein in dem goldenen 
Schlosse.“ — „Ach,“ seufzte der Bruder, „ich hatte mir’s auch 
viel leichter und schöner gedacht, ein König zu sein; die goldene 
Krone hat mir die Stirn ganz wund gerieben, und viel lieber 
wollt’ ich mit dir in dem grünen Walde Holz zusammenlesen, als 
immer auf dem goldenen Throne sitzen; das ist so langweilig.“ — 
„Weißt du was?“ klang’s aus dem silbernen Bett herüber, wir wollen 
jedes eine Träne auf den Boden fallen lassen; wenn’s dann auch 
mit der Herrlichkeit aus ist, so kommen wir doch wieder zu unsern 
Eltern.“ Das war ganz nach des Bruders Sinn, und so ließ jedes 
von ihnen eine Träne auf den Boden fallen. Kaum war dies ge¬ 
schehen, so ging ein lautes Wehklagen durch das goldene Schloß; 
dann krachte und donnerte es so gewaltig, daß Bruder und Schwester 
zitternd aus den Betten sprangen, laut aufschrien und die Besinnung 
verloren. Das Schloß war verschwunden, die Kinder lagen wie tot 
in der großen Halle auf dem kalten Boden, und umher standen 
traurig die kleinen Wichtelmänner. „Habe ich es euch nicht gesagt,“ 
sprach einer von ihnen, der einen schneeweißen Bart hatte, „daß 
wir auch dieses Mal, wie schon so oft, unsern König nicht behalten 
würden? Die Kinder der Menschen sind gar eigener Art, auch die 
ärmsten haben ihre Eltern so lieb, daß sie sich nach ihnen sehnen 
und weinen, wenn man ihnen auch alle Herrlichkeiten der Welt 
bietet.“ Die Wichtelmänner senkten traurig den Kopf; denn sie 
hatten doch gar zu gern einen König aus den Menschenkindern
	        
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