Full text: Von Vulfila bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Hälfte 1, [Schülerband])

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Daß ich so lange schon Mensch bin, daß schon so viele Gerechte 
iio Sich mir sammeln und nun bald alle Geschlechte der Menschen 
Mir sich heiligen werden! Hier lieg ich, göttlicher Vater, 
Noch nach deinem Bilde geschmückt mit den Zügen der Menschheit, 
Betend vor dir; bald aber, ach, bald wird dein tötend Gericht mich 
Blutig entstellen und unter den Staub der Toten begraben. 
ii5 Schon, o Richter der Welt, schon hör ich fern dich und einsam 
Kommen und unerbittlich in deinen Himmeln dahergehn. 
Schon durchdringt mich ein Schauer, dem ganzen Geistergeschlechte 
Unempfindbar, und wenn du sie auch mit dem Zorne der Gottheit 
Tötetest, unempfindbar! Ich seh den nächtlichen Garten 
i2o Schon vor mir liegen, sinke vor dir in niedrigen Staub hin. 
Lieg und bet und winde mich, Vater, in Todesschweiße. 
Siehe, da bin ich, mein Vater. Ich will des Allmächtigen Zürnen, 
Deine Gerichte will ich mit tiefem Gehorsam ertragen. 
Du bist ewig! Kein endlicher Geist hat das Zürnen der Gottheit, 
i25 Keiner je den Unendlichen, tötend mit ewigem Tode, 
Ganz gedacht und keiner empfunden. Gott nur vermochte 
Gott zu versöhnen. Erhebe dich, Richter der Welt! Hier bin ich! 
Töte mich, nimm mein ewiges Opfer zu deiner Versöhnung! 
Noch bin ich frei, noch kann ich dich bitten, so tut sich der Himmel 
i3o Mit Myriaden von Seraphim aus und führet mich jauchzend, 
Vater, zurück in Triumph zu deinem erhabenen Throne! 
Aber ich will leiden, was keine Seraphim fassen, 
Was kein denkender Cherub in tiefen Betrachtungen einsieht; 
Ich will leiden, den furchtbarsten Tod ich Ewiger leiden!" 
i35 Weiter sagt' er und sprach: „Ich hebe gen Himmel mein Haupt auf, 
Meine Hand in die Wolken und schwöre dir bei mir selber, 
Der ich Gott bin wie du: ich will die Menschen erlösen." 
Jesus sprachs und erhub sich. In seinem Antlitz war Hoheit, 
Seelenruh und Ernst und Erbarmung, als er vor Gott stand. 
uo Aber unhörbar den Engeln, nur sich und dem Sohne vernommen, 
Sprach der ewige Vater und wandte sein schauendes Antlitz 
Nach dem Versöhner hin: „Ich breite mein Haupt durch die Himmel, 
Meinen Arm aus durch die Unendlichkeit, sage: ich bin 
Ewig! und schwöre dir, Sohn: ich will die Sünde vergeben." 
i45 Also sprach er und schwieg. Indem die Ewigen sprachen. 
Ging durch die ganze Natur ein ehrfurchtvolles Erbeben. 
Seelen, die jetzo wurden, noch nicht zu denken begannen. 
Zitterten und empfanden zuerst. Ein gewaltiger Schauer 
Faßte den Seraph, ihm schlug sein Herz, und um ihn lag wartend, 
i5o Wie vor dem nahen Gewitter die Erde, sein schweigender Weltkreis. 
Sanftes Entzücken kam allein in der künftigen Christen 
Seelen und süßbetäubend Gefühl des ewigen Lebens. 
Aber sinnlos und zur Verzweiflung nur noch empfindlich. 
Sinnlos, wider Gott was zu denken, entstürzten im Abgrund 
i55 Ihren Thronen die Geister der Hölle. Da jeder dahinsank,
	        
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