Full text: Für Unter-Tertia bis Unter-Sekunda (= III - I der Realschulen) (Prosah. 6, [Schülerband])

G. Falke. Schleswig-Holstein. 
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die Augen zu dir aufschlägt und mit einem blauen Blick unter goldenen 
Wimpern hervor dich anspricht. 
Weiche ihr nicht aus, laß dir erzählen von ihr. Von König Ringel¬ 
haar erzählt sie und von alten Runensteinen. Und ihre Stimme klingt 
jetzt lvie das leise Summen honigtrunkener Bienen oder wie süßer 
Schmeichelwind in jungem, zitterndem Birkenlaub, aber auch wie ein 
heller Falkenschrei aus freier Sonnenhöhe klingt sie manchmal oder wie 
Schildschüttern und Schwertklirren ganz weit, weither, aus alten Zeiten 
herauf. Und wenn du weiter wanderst und dein Fuß schweift um 
Hünengräber und sagenhafte Stätten der Vorzeit, deren eine Menge im 
Lande sind, und sie werden dir lebendig, so ist es diese erikageschmückte 
holsteinische Heideprinzeß, die dir die Augen dafür geöffnet hat. Und 
durchquerst du so mit offenen Sinnen das Land, wird dir überall seine 
Geschichte aufblühen; aus allen Burgmalen und Dorftypen, aus Namen 
und Gebräuchen und aus der Landverteilung: im Westen und in Mittel¬ 
holstein seit alters her die erbeingesessenen freien Bauern, im Osten die 
großen Güter des Adels, der hier keine freien Herren und Besitzer vor¬ 
fand und leichter das Land aufkaufen konnte; schöner und fruchtbarer, 
wird es ihn auch besonders gereizt haben. Freilich die von Dichtern 
so viel besungene Heide wird besonders in Holstein immer mehr zurück¬ 
gedrängt. Das anbaufähige Land wird unter den Pflug genommen, das 
andere ausgeforstet. So braucht sich der mittelholsteinische Landrücken 
längst nicht mehr vor dem Osten zu verstecken. Die Schönheit seiner 
lachenden, volkreichen, glücklichen Dörfer nimmt es mit den großen 
Gutshöfen und malerischen Schlössern an den waldumrauschten Seen 
des Ostens schon auf. 
Verschieden wie der Charakter der Landschaft ist auch der der Be¬ 
wohner: Heiterkeit und Schwermut, Offenheit und Verschlossenheit, Festig¬ 
keit und Weichheit, Schwerfälligkeit und Beweglichkeit, Einfalt und Schlau¬ 
heit, List und Treue, zäher Fleiß und behäbiges Genießen, Wohlleben 
und Genügsamkeit, vieles abhängig von Landschaft und Beruf, hier und 
da auch wohl ausartend in Völlerei, Eigensinn, Rechthaberei und andere 
menschliche Schwächen. Aber der Bewohner der feuchten, nebligen Tief¬ 
ebene, wo das Klima einem reichlichen Genuß von Teepunsch und andern 
erwärmenden Getränken Vorschub leistet, wird auf seinen einsamen, zer¬ 
streuten Höfen feineren Kulturgenüssen fremder bleiben und mehr materiellen 
Lebens- und Leibesfreuden zuneigen. Genügsamer ist der Heidebauer, doch 
lange nicht mehr so anspruchslos wie früher. Er ist der, der nach 
modernen Grundsätzen mittels künstlichen Düngers die intensivste Land¬ 
wirtschaft treibt und jetzt Ernten erzielt, die den Erträgnissen der Güter 
im Osten durchaus gewachsen, ja überlegen sind. In der Milch- und 
Weidewirtschaft ist er immer überlegen gewesen. Ja, auch der Land¬ 
rücken darf seine Herren und Eigner mit Stolz tragen. Ist er es doch,
	        
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