64 21 a. Der Zusammenbruch des Nömerreichs und der alten Kultur.
Getreidemangel und Hungersnöte eintreten konnten, zumal wenn, wie
im 3. Jahrhundert, beständig Kriege und Erhebungen von unberech-
tigten Machthabern die Getreideausfuhr störten, ist begreiflich genug,
isa Aber hinter diesen treibenden Kräften steht eine noch viel all¬
gemeinere Ursache, die Wirkung der Stadt und des städtischen
Lebens. Ununterbrochen zieht die Stadt die Landbevölkerung an sich,
das flache Land wird nicht nur politisch sondern auch materiell von
der Stadt aufgesogen. Durch die materiellen und sozialen Vorteile,
185 die die Stadt gewährt und die wie ein Magnet auf die Landbevölkerung
wirken, stärker noch durch die Aussicht auf raschen Gewinn und lohnende
Beschäftigung und daneben auf unentgeltliche Versorgung, aus ein
Durchfüttern und Durchlungern der Ärmeren, am stärksten durch die
volle Ausbildung des Kapitalismus, der Geldwirtschaft, unterbindet sie
Igo der Landbevölkerung die Lebensmöglichkeit. Jahrhundertelang kann
diese Entwicklung fortdauern, ohne daß ihre Wirkung dem Unerfahrenen
deutlich vor Augen tritt, kann der steigende Glanz und die Vermehrung
des Nationalvermögens über die Ungesundheit der Zustände hinweg¬
täuschen: schließlich muß der Zustand eintreten, wo die Folgen klar
ios zutage treten, wo der Ruin der Landbevölkerung auch die Stadt ergreift.
Handel und Verkehr beginnen zu stocken, die Industrie steht still, Tausende
von arbeitsbegierigen Händen bleiben unbeschäftigt; denn die Grund¬
lagen des Lebens, die Lebensmittel, für die alle Gewerbetätigkeit
keinen Ersatz schaffen kann, werden nicht mehr in genügender Masse
200 erzeugt. Und so beginnen die Städte zu veröden wie vorher das Land.
Die Empfindung von der Unnatur der bestehenden Verhältnisse, von
dem Todeskeim, den die über das Maß hinaus gesteigerte, zur höchsten
Vollendung gelangte Kultur in sich trägt, haben alle besseren Geister
der Kaiserzeit empfunden und ihr vielfach ergreifenden Ausdruck
205 gegeben. Die wehmütige Sehnsucht nach natürlichen Verhältnissen,
der träumerische Wunsch einer Rückkehr zu den einfachen Zuständen
des kulturlosen Landlebens wird oft genug ausgesprochen; aber erfüllen
ließ er sich nicht. Der Städter kann nicht wieder zum Landmann werden;
voll geringschätziger Verachtung, im Vollgefühl teilzuhaben an der
2io städtischen Bildung und an den Hochgenüssen der Kultur blickt auch der
niedrigste Städter auf den dummen Bauer, den pagami5, hinab.
So gelangt die Entwicklung zum Abschluß: die Stadt, ursprünglich
das Hauptförderungsmittel der Kultur und die Arsache einer gewaltigen
Steigerung und Vermehrung des Wohlstandes, vernichtet schließlich
215 Wohlstand und Kultur und zuletzt sich selbst.
Damit ist der Kreislauf der antiken Entwicklung vollendet. Die
polis und das Selbstregiment sind untergegangen. An ihre Stelle
tritt der Beamtenstaat des byzantinischen Reichs. Der Westen ist dem
Reich entrissen worden und noch jahrhundertelang in immer tiefere
220 Barbarei hinabgesunken, bis ganz allmählich eine neue, aufsteigende
Entwicklung einsetzt. Eduard Meyer.