Full text: Dichtung des Mittelalters (Teil 1)

136 Dritte Periode, von 1100 bis 1300, oder erste Blüteperiode. 
nischen Sage vom heiligen GraN. Außerdem behandelten diese 
Dichter des Kunstepos noch Legenden und Erzählungen geistlichen 
und weltlichen Inhalts. 
Somit ist der Gegenstand des Kunstepos nicht das Erlebte und 
die Erfahrung eines ganzen Volkes, sondern nur das Erlebnis einzelner 
Personen, ja oft nur das von dem phantasiereichen Dichter romanartig 
Erfundene. Auch das, was den Sinn des ritterlichen Sängers erfüllte 
und das Wesen des Rittertums ausmachte, spiegelt sich in den Dichtungen 
wider, wie die höfische Sitte, das üppige Leben, der Drang nach Abenteuern 
und Phantastischem, der Minnedienst mit allen seinen hohen Ideen, aber 
auch mit seinen oft traurigen Verirrungen. So tritt das rein Menschliche 
lehnt aus dem sranz. aventure, mittellat. die aventura (ursprünglich adventura]) 
aus, welche eine stets Neues erfindende Phantasie auf das phantastischste, wunder¬ 
barste und bunteste gestaltet und endlos aneinanderreiht. Nach Vollendung großer 
Taten kehren die Ritter zu neuer Freude zur Tafelrunde zurück. Die vorzüglichsten 
derselben sind Jwein, Tristan, Erek, Parzival. 
1 Die Sage vom heiligen Gral, ursprünglich aus dem Oriente stammend, 
findet ihre Ausbildung zunächst in Spanien und Südfrankreich, dann in Deutsch¬ 
land. Dieselbe enthält ein doppeltes Moment: das allgemein menschliche von der 
Annahme eines paradiesischen Zustandes aus Erden und das christliche von dem 
Glauben an die vom Abendmahle Christi ausgehende beseligende Kraft. Der Gral 
(aus dem lat. gradals (Schüssel mit stufenmäßig aufgerichteten Seitens, altfranz. 
graal oder greal — Schüssel) ist eine aus einem kostbaren Edelsteine gearbeitete 
Schüssel, aus welcher Christus mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl genoß, 
und in welche Josephus von Arimathäa das aus der Seitenwunde Christi rinnende 
Blut auffing. Daher knüpft sich an den Gral äußerlich die Darbringung des 
christlichen Opfers und die Welterlösung; er ist deshalb auch mit Kräften ewigen 
Lebens ausgestattet. Eine weiße Taube stiegt alljährlich am Karfreitage vom Himmel 
hernieder, legt in die Schüssel eine Oblate (Hostie) und erneuert durch dieselbe die 
überirdische Kraft; denn der Anblick des Grals rettet vom Tode und befriedigt 
alle Wünsche. Niemand aber kann ohne den Ruf des Herrn zum Gral gelangen, 
niemand der Wunder desselben teilhaftig werden, der stumpfsinnig und gleichgültig 
nicht nach demselben fragt. So ist der Gral gleichsam die Geschichte der Erlösung 
durch den menschgewordenen Gottessohn, das Symbol der christlichen Religion, 
die mehr als alle Herrlichkeit der Welt beseligt, die dem Menschen aber nur durch 
die Gnade Gottes zu teil wird. — Von Titurel, einem sagenhaften Königssohne 
von Anjou, dem ersten Gralkönige, wird dem Gral, der nach dem Tode Josephs 
von Arimathäa von Engeln schwebend in der Lust gehalten war, eine herrliche 
Burg erbaut auf dem Berge Monsalväsch (ruons salvationis — Berg der Erlösung) 
oder Munsalvaesche (mont sauvage) in Nordspanien. Zugleich gründet er zum 
Dienste desselben den Ritterorden der Templeisen (nach dem Vorbilde der Templer 
gedacht), in welchen nur demütige und herzensreine, dabei aber mit allen helden¬ 
haften Tugenden ausgestattete Ritter aufgenommen werden. — Eine Vereinigung 
der Gralssage mit der Artussage, des geistlichen Rittertums mit dem welt¬ 
lichen, finden wir im Parzival, Titurel und Lohengrin.
	        
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