Full text: Quellenlesebuch für den Unterricht in der Länder- und Völkerkunde

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Seealpen, gibt für die Täler, die bei Mentone münden, mehr als tausend 
wildwachsende Arten an. Man müßte fast ganz Irland oder Schweden 
durchstreifen, um eine Ausbeute zu machen, wie sie hier auf einer Fläche 
von etwa 15 Quadratmeilen möglich ist. Ungewöhnlich reich sind die 
Täler von Mentone an Orchideen, und diese blühen fast sämtlich im Früh- 
jähre. Auch manches Farnkraut, das sonst selten ist, kann man hier finden. 
Den Laien entzückt aber von letzteren stets am meisten das Venushaar, 
Adiantum Capillus Yeneris, das mit seinen zierlich leichten Blättern die 
feuchten Vertiefungen der Felsen schmückt. Die keilförmigen Fiedern dieses 
Farns scheinen wie auf dünnen glänzendschwarzen Draht gezogen zu sein, 
zittern und wogen, selbst bei dem leisesten Luftzug. Nicht umsonst haben die 
alten Römer dieses schöne Gewächs mit dem Haar der Venus verglichen. Auch 
in die Heilkunde drang es schon damals ein, wie denn auch heute gelegeut- 
lich noch ein Brusttee aus seinen süß-bitterlicheu, etwas zusammenziehenden 
Blättern hergestellt wird, welche auch, mit Zucker übergössen, den Syrupus 
capillorum A^eneris liefern, der gegen Brustleiden helfen soll. — Ein alter 
gepflasterter Weg kürzt oben im Tale die Fahrstraße ab. Er steigt in einem 
Olivenhain empor. An einer seiner Windungen taucht plötzlich, ganz in 
der Nähe, Gorbio auf. Es krönt einen steilen Hügel, der ganz in Oliven 
gehüllt ist. Ein Amphitheater mächtiger Felsen umrahmt dieses Bild und 
steigert den Eindruck zu selten malerischer Wirkung. Wir erreichen bald 
den Ort, überschreiten den Platz, dem eine alte Ulme ihren Schatten spendet, 
wenden uns dann links und schlagen den Fußweg ein, der, an einem offenen 
Brunnen vorbei, der Berglehne folgt. Nach kaum halbstündigem Aufstieg 
haben wir das weit sichtbare Kreuz erreicht, das hoch oben am vorspringenden 
Bergesrande dem Wetter trotzt. Bei starkwehendem Mistral ist es kaum 
möglich, an jener Stelle zu verweilen; das zersplitterte Kreuz, welches nur 
noch einen seiner Arme gen Himmel streckt, zeugt von der Gewalt der 
Stürme, die dort oben wüten. Bereits von diesem Kreuze aus ist der 
Blick überwältigend schön. Er umfaßt die sämtlichen Täler, die bei Mentone 
münden. Auf den Höhen sieht man noch immer jene wilden Ortschaften 
thronen, Burgen der Grimaldi und der Lascaris, die einst diese Täler be- 
herrschten. Ein Halbkreis trotziger Berge steigt im Hintergründe auf und 
bildet für das Auge eine undnrchdringbare Schranke, während im Süden 
das blaue Meer endlos sich ausbreitet. Eine weitere Steigerung des Ein- 
drucks hält man nicht für möglich; nur schwer trennt man sich von diesem 
Bild, und doch gewinnt die Aussicht noch an erhabener Größe, sobald man 
den Bergrücken erreicht, der in südlicher Richtung gegen Roccabruua führt. 
Dann verschieben sich gegeneinander, wie mächtige Dekorationen, die Fels- 
wände, die den Hintergrund der Täler schließen, und die Umrisse des Bildes 
werden immer reicher, immer bewegter. Bald tritt im Mittelpunkt der Land- 
schaft, am Nordabhange des gewaltigsten dieser Riesen, Sanct Agnese her- 
vor, ein ansehnliches Dorf, das in schwindelnder Höhe, wie ein Schwalben- 
nest, über dem Abgrunde schwebt. Wer konnte das Dasein dieses Ortes 
ahnen; ist er doch gegen das Meer von dem Felsen, an den er sich klammert, 
ganz verdeckt. Der hohe Fels sollte ihn auch einst verbergen vor den 
spähenden Blicken der Sarazenen, die das tyrrhenische Meer durchkreuzten. 
Und schließlich war es doch der Sage nach Harun, ein Sarazenenhäuptling, 
welcher im zehnten Jahrhundert die Burg erbaute, deren Ruine heute noch
	        
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