fullscreen: Auswahl deutscher Dichtungen von dem Nibelungenliede bis zur Gegenwart (Abtheilung 1)

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2. 
Wer Furcht vor keinem hegt, Furcht keinem auch erregt, 
Sieht den furchtbaren Tod, von keiner Furcht bewegt. 
Wer keine Lust verstört, von keiner Lust bethört, 
Erlangt die höchste Lust, wo alle Lust aufhört. 
Wem hoch und niedrig gleich, gleich viel ist hart und weich, 
Gleichgültig reich und arm, der ist in Armuth reich. 
Wer Lieb' mit Lieb' umfaßt und selbst den Haß nicht haßt, 
Der ist zu Hause dort, hier auf der Welt ein Gast. 
3. 
Bedenke, daß ein Gott in deinem Leibe wohnt, 
Und vor Entweihung sei der Tempel stets verschont. 
Du kränkst den Gott in dir, wenn du den Lüsten fröhnest, 
Und mehr noch, wenn du in verkehrter Selbstqual stöhnest. 
Gott stieg herab, die Welt zu schaun mit deinen Augen; 
Ihm sollst du Opferduft mit reinen Sinnen saugen. 
Er ist, der in dir schaut und fühlt und denkt und spricht: 
Drum, was du schaust, fühlst, denkst und sprichst, sei göttlich Licht. 
4. 
Ich freue jeden Tag dem Abend mich entgegen 
Und jede Nacht im Traum mich auf den Morgensegen. 
Ich freue still mich mit unungestümer Lust, 
Nicht ungeduldig ist die Freud' in meiner Brust. 
Ich freu' mich auf die Stund' und auf den Augenblick, 
Groß und Kleines, mein nnd anderer Geschick. 
Vom Herbst den Winter durch freu' ich dem Lenz mich zu 
Und aus dem Sommer durch den Herbst zur Winterruh'. 
Ich freu' mich durch des Jahrs und durch des Lebens Zeit 
Und aus der Zeit hinaus mich in die Ewigkeit. 
5. 
Unglücklich bist du nicht, wie unbeglückt du seist: 
Das Schicksal nur beglückt, doch glücklich macht der Geist. 
Denkst du, wie schön es wär', ob du ein Gut gewannst, 
Denk auch: noch schöner ist's, daß du's entbehren kannst. 
Ob auszutheilen du nicht Schätze hast im Haus, 
So theile, die du hast, die goldnen Lieder, aus. 
Ich gebe was ich hab', und hab' um nur zu geben; 
Zu geben samml' ich ein: dies Sammeln ist mein Leben. 
Den König wollt' ich sehn, der in Freigebigkeit 
Mit mir wetteiferte! Wer, Fürsten, wagt den Streit? 
Dazu aus Ost und West erheb' ich Geisteszehnten, 
Zu lohnen königlich all' meinen Kronbelchnten. 
So zieht die Sonne wohl das Wasser auf mit Strahlen 
Und gibt's der Welt zurück in Regenbogenschalen. 
6. 
Die Kränze, die du siehst, sind lauter Trauerzeichen 
Erblichner Freuden, die den Freuden nach erbleichen.
	        
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