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Über die Pietät. 
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griff der Pietät in unseren ethischen Anschauungen entbehren möchten, desto 
mehr wird es sich lohnen, dem ursprünglichen Gepräge, der eigentlichen Be¬ 
deutung des, das vermuten wir im voraus, tiefsinnigen und bedeutungsvollen 
Wortes nachzuspüren. 
Wenn ich Sie also, hochzuverehrende Anwesende, einlade nach diesen all- 5 
gemeinen Erwägungen den Begriff der Pietät etwas schärfer ins Auge zu 
fassen, so erwarten Sie nicht, daß ich mit einer Definition dieses Begriffes 
beginne. Auch dadurch unterscheidet sich die Volksweisheit von der Weisheit 
der Denker, daß volkstümliche Begriffe sich nur unwillig in die knappe Form 
einer Definition fügen, welche erst für das schulmüßig geübte Denken gefunden 
und nur diesem gemäß ist. Volkstümlichen Begriffen kommen wir am ehesten 
bei, wenn wir sie verwandten Begriffen, sei es desselben oder eines anderen 
Volkes — namentlich den uns angeborenen der eigenen Sprache — ver¬ 
gleichen und, den Unterschieden von diesen nachspürend, auf dem Wege der 
Verneinung und Abgrenzung dem Kerne des Begriffes allmählich näher rücken. 
Wir werden daher zuerst zu ermitteln suchen, was die Pietät nicht ist. 
Am häufigsten wird die Pietät mit unserem Worte Frömmigkeit zusammen- g 
gestellt. Allein dieses Wort — obwohl es durch einen merkwürdigen Wechsel 
der Bedeutungen aus der ursprünglichen Geltung frommendes, tüchtiges Wesen 
hervorgegangen ist — bezieht sich nach seinem jetzigen Gebrauche offenbar 
nur auf das Verhältnis des Wrenschen zu Gott, indem es im wesentlichen 
soviel wie gottergebene Gesinnung bedeutet. Die Pietät dagegen hat es 
nicht einmal vorzugsweise mit dem Verhältnis zwischen Gottheit und Mensch¬ 
heit zu thun. Für dieses Verhältnis hat ja das Römervolk einen anderen tief¬ 
sinnigen Namen gefunden, der noch weniger als das Wort Pietät in unseren 
lebenden Sprachen entbehrt werden kann. Das Verhältnis des Menschen zur 
Gottheit bezeichnet der Römer mit religio, einem Worte, das ursprünglich 
die ganz allgemeine Bedeutung des Gedenkens und Bedenkens hatte, aber von 
dem Volke vorzugsweise auf dasjenige Bedenken beschränkt ward, das seinein 
ernsten Sinne das wichtigste schien. Die Pietät gehört zunächst und wesentlich 
dem Kreise menschlicher Beziehungen an, indem sie vor allein das Verhältnis 
der nächsten Angehörigen zu einander bezeichnet. Wir könnten daher versucht 
fein das Wort mit Anhänglichkeit zu übersetzen. Aber freilich wie wenig 
genügt das Wort! Es ist viel zu äußerlich, es reicht nicht entfernt an die 
Innigkeit des Gefühls, das dem Röiner das Wort pietas bezeichnete; es ist 
außerdem viel zu unbestimmt, indem es keine auf persönlicher Zuneigung be¬ 
ruhende Beziehung ausschließt. Insofern die Bande der Familie vorzugsweise 
auf Verpflichtungen beruhen, die in empfangenen Wohlthaten ihren Grund 
haben, ist die Pietät oft nicht weit von dem entfernt, was unser schönes
	        
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