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Die Jungfrau von Orleans.
und die Heilige Schrift verstoßen, die Sakramente verachtet, Aufruhr erregt, die
Gefahr einer Kirchenspaltung heraufbeschworen und von dem rechten Glauben
sich verirrt habe, wurde Johanna in Erwartung ernster Reue und wahrer
Besserung für ihr Seelenheil zu ewiger Gefangenschaft „bei dem Brote des
Schmerzes und dem Wasser der Trübsal" verurteilt. Dann wurde sie, noch
immer wie betäubt, in den Kerker zurückgeführt. Auf Verlangen der Richter
legte sie nun weibliche Kleidung an.
Mit diesem Widerruf war nach Cauchons und seiner Genossen Meinung
der Zauber gebrochen, der von Johanna ausging, war all das Große, das sie
getan, mit einem Makel behaftet und gleichsam ungeschehen gemacht. Jetzt war
Johanna gleichsam moralisch vernichtet; nun konnte man ohne Gefahr auch ihren
Leib vernichten. Daß dies von vornherein die Absicht der Richter gewesen sei,
kann kaum bezweifelt werden. Eine Handhabe dazu fand sich leicht. Als die
Richter am 28. Mai im Kerker erschienen, fanden sie Johanna wieder in
männlicher Tracht; sie habe diese angelegt, erklärte sie, weil es sich unter
Männern so besser schicke. Nach andern hätte man ihr während der Nachtruhe
die weibliche Kleidung weggenommen und sie so genötigt zur verpönten männ-
lichen Tracht zu greifen. Dann verlangte Johanna die Erfüllung der ihr
gemachten Versprechungen: Beseitigung der Ketten, anständiges Gefängnis,
Zulassung zur Messe. Sie behauptete in den letzten Tagen ihre Stimmen
wieder gehört zu haben: die Heilige Katharina und die Heilige Margaretha
seien ihr erschienen um ihr den Verrat vorzuhalten, den sie durch den Widerruf
und die Abschwörung begangen habe. Ausdrücklich nahm sie beides zurück:
durchaus wahrheitsgemäß habe sie in dem Prozeß über ihren himmlischen Beruf
ausgesagt; niemals habe sie gegen Gott und den Glauben gefehlt; sie habe
nichts zu widerrufen gehabt.
Damit hatte man Johanna glücklich zur rückfälligen Ketzerin gemacht. Am
29. Mai trat der Gerichtshof von neuem zusammen: einstimmig erklärte er,
daß mit Jemine Darc nunmehr von der weltlichen Obrigkeit dem Rechte gemäß
verfahren werden müsse.
Am 30. Mai früh begann der letzte Akt des Dramas auf dem Alten
Markte zu Ronen. Die Richter, eine Menge geistlicher und weltlicher Herren,
Scharen des Volkes hatten sich eingefunden. Auf einem Karren, in Frauen-
lleivern, wurde sie herbeigeführt; der Estrade der Richter gegenüber wies man
ihr einen erhöhten Platz an. Nicht mit dem siegesgewissen Mut und der
begeisterten Zuversicht einer Heldin ging Johanna dem Ende entgegen; am
Morgen, als man ihr die nahe Vollstreckung des Urteils verkündete, war sie in
verzweifelten Schmerz ausgebrochen; bei Beichte und Abendmahl hatte sie sich
gefaßt; in stiller Ergebung beugte sie sich dem Schicksal, das Gott über sie
verhängt hatte. Wieder wurde zunächst gepredigt; aufmerksam hörte Johanna