Full text: [Abteilung 2, [Schülerband]] (Abteilung 2, [Schülerband])

82. Winterreise im Norden. 
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fast bis zum Gürtel reichen, mit Masken und Halsbändern 
sitzen die Reisenden unbeweglich auf hohen Sätteln, wie 
sie das Volk der Jakuten gebrauch. Alle schweigen. Die 
Luft ist dunkel und dick; die Karawane zieht durch fühlbare 
Nebel, die zögernd, gleichsam wider Willen, den Pfad wieder 
bedecken, von dem sie eben zurückgedrängt worden sind. 
Der Morgen beginnt, und ein blutiger Streifen der Morgen— 
röte bricht am Rande des Horizontes durch die Nebel; die 
dicken Dünste wogen noch immer über den Häuptern der 
Reisenden. Die Sonne geht auf, wie eine feurige Kugel, — 
und plötzlich spielen tausend Regenbogen auf dem Schnee, 
auf den beeisten Sumpfgräsern und auf den Zweigen der 
Sträucher. Demantene Fäden und Spitzen flattern, blitzen, 
funkeln; flimmernde Flitterchen schweben in der Luft; die 
Strahlen steigen auf und wogen gleich einem Saatfelde. 
Die Schatten der Bäume, vom Nebel zurückgeworfen und 
vergrößert, steigen wie Riesen empor und nehmen seltsame 
Gestalten von Türmen, Säulen, Kuppeln, ja ganzen 
Schlössern an. Ein prächtiges Schauspiel, — doch alles 
nur für einen Augenblick. Die Sonne sinkt, und mit ihr 
schwindet der Zauber; von neuem bettet sich das tote Feld 
unter dem Leichentuche des Schnees; von neuem stehen die 
abgezehrten Sträucher ringsum, vom Reif belichtet. Kein 
3 ist zu sehen, keine Stimme zu hören, — alles so 
still, wie das Grab! Endlich ist, nach dem Merkzeichen zu 
urteilen, das Nachtlager nicht mehr fern; die Karawane 
lebt auf. Die Treiber ermuntern ihre Rosse; Baumstümpfe, 
vom Feuer schwarzgebrannt, ragen aus dem Schnee her— 
vor; — hier ist die Lagerstätte Die vordersten Reiter 
steigen von ihren Pferden herab, die von den Jakuten 
sogleich abgeladen werden, während andere nach Weideplätzen 
suchen, d. h. nach Stellen, wo es den Tieren leicher ist, 
mit den Hufen das spärliche Moos unter dem Schnee 
hervorzugraben; noch andere schleppen Lagerholz herbei. 
Allmählich fängt das Holz knisternd an zu brennen, und 
die Kaufleute lagern sich auf Filzdecken, in Erwartung des 
Thees und des Abendessens, rings um das Feuer. Die 
Kleidung aller ist weiß von gefrornen Dünsten, die Hals— 
bänder und Masken sind vom Eise steff. Man nimmt sie 
ab, um sie zu trocknen. Die Reisenden atmen freier. Der 
Atem zischt und fliegt als Reif umher; sie sprechen; — und 
die Bewegung der Laute ist in der Luft sichtbar. Nicht
	        
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