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unserer Zeit aus leicht begriffen werden, nicht so leicht aber die des
Nibelungenliedes, welches eine dem Kinde fremdere Welt aufzeigt. Ferner
geschieht der Eintritt in die menschliche Gesellschaft, deren Entwickelung
doch von jetzt an —_ wenn auch in der Beschränkung auf das eigne
Volk das Kind beschäftigen soll. von unseren Sagen aus viel ein¬
facher und leichter, als von den Nibelungen aus mit ihrem Stoßen und
Drängen. Wohl zu bedenken ist weiterhin die Gliederung der Thüringer
Sagen in kleine, leichtfaßliche Geschichten, während die Nibelungen ein
großes, gewaltiges Drama darstellen. Wertvoll erscheint auch, daß das
Kind gleich anfangs aus den Thüringer Sagen eine richtige Vorstellung
über das Rittertum gewinnt, daß es nicht zuerst mit der Mischung von
Rittertum und Heldentum, wie es die Nibelungen bieten, bekannt ge¬
macht wird; auf diese Weise wird beim Auftreten der Völkerwanderung
das Kind schneller zur Klarheit kommen, und Verwechselungen, welche
gerade hier häufig sind, werden leichter vermieden. Vor allem aber er¬
halten die Thüringer Sagen ein bedeutendes Übergewicht dadurch, daß
das Land, in dem sie sich zugetragen haben, als Teil des Reichsganzen
erscheint, daß seine Fürsten Reichsfürsten sind. Und solcher Art muß
der erste Eindruck sein, den ein Zögling einer deutschen Schule erhält,
wenn deutsche Länder, deutsche Fürsten ihm zum erstenmal, wenn auch
in sagenhafter Weife, vorgeführt werden. Nimmt man diesen Gesichts¬
punkt als Maßstab, so erscheinen die Thüringer Sagen sogar berechtigter,
deutsche Sagen zu heißen, als die Nibelungen. Vgl. zu diesem wichtigen
Punkte Th. Knochenhauer, Geschichte Thüringens zur Zeit des ersten
Landgrafenhauses; Perthes, 1871; S. 95 ff.
Über die Anlage der folgenden Präparattonen nur wenige Worte.
Nicht von einer Mißachtung „des Erzählens", sondern von der
Erwägung aus, daß in der Verwertung und Ausbeutung des geschicht¬
lichen Stoffes die Hauptleistung des Lehrers besteht, halte ich es für
erlaubt, die Sitte des Vortragens zu durchbrechen. Nicht als ob der
Lehrer nun gar nicht mehr erzählen dürfe; aber wenn es triftige Gründe
giebt,.unter Umständen hiervon abzuweichen, so soll man das Erzählen
nicht als Dogma betrachten. Hat man für das Kind passende gedruckte
Erzählungen, — warum soll der Lehrer thun, was das Kind selbst
thun kann? Man hat mit Recht gesagt, das Kind soll lernen, aus den
Quellen schöpfen. Daß dabei nicht an Wattenbachs Geschichtsquellen zu
denken ist, scheint nicht von jedermann eingesehen worden zu sein. Der
Lehrer muß gar häufig dem Zögling gegenüber die Quelle fein, darum
sollte er, so oft es angeht, die Gelegenheit ergreifen, ihm Anleitung zu
geben, historische Stoffe denkend zu lesen, zu durchdringen und sich an¬
zueignen; stehen wir Deutschen doch nach Bismarck (Reichstagsrede vom
9. Oktober 1878) hinsichtlich der Fähigkeit des praktischen Urteils über
Gelesenes hinter Franzosen und Engländern zurück. Sollte aber jemand
an dem altertümlichen Text Anstoß nehmen, so möchte ich hier nur aus
folgendes hinweisen: in ein altdeutsches Zimmer gehören auch altdeutsche
Möbel; und unserer flachen Zeit mit ihrer oft flachen Fortbildung der
Sprache kann eine Erinnerung an die volkstümliche Sp rech weife unserer