X. Der baltische Landrücken und die deutsche Ostseeküste. 95
beiläufig gesagt, zwar 60 km länger, aber im Wasserspiegel be¬
deutend weniger breit ist, in bestimmten Entfernungen Ausweiche¬
stellen geschaffen, worin der eine Panzer so lange hineingeht, bis der
andere vorbei ist.
Der Kanal mißt im Wasserspiegel 65 m und übertrifft durch
seine Tiefe (9 m) nicht nur diejenige sämtlicher deutschen Kanäle,
sondern auch aller schiffbaren Flüsse, die nicht einmal die Hälfte
seiner Fahrwassertiefe erreichen. Am Anfang und Ende des Werkes
sind große Doppelschleusen im Wasser verborgen, die lediglich den
Zweck haben, die Anlagen gegen schwere Stürme der Nord- und
Ostsee zu schützen. Jede von ihnen besitzt eine Kammer für die
Ein- und Ausfahrt. Mehrere Brücken überspannen in mächtigem
Bogen die Wasserfläche, von denen die Hochbrücken bei Levensau
und Grünen thai die bedeutendsten sind. Nur 6 m bleibt die Spann¬
weite des Bogens bei Levensau hinter derjenigen der Müngstener
Brücke an der Wupper zurück, wenn auch seine Scheitelhöhe über
dem Wasserspiegel nur 42 m (Müngsten 107 m) beträgt.
Leider war es Kaiser Wilhelm dem Großen, der am 3. Juni
1887 die drei ersten Hammerschläge mit dem Wunsche vollzog, daß
der Kanal ein ewiges Zeichen beständiger Macht, Einheit und Größe
des Reiches sein möge, nicht mehr vergönnt, ihn auch einzuweihen;
denn schon ein Jahr darauf schloß er die Augen für immer. Erst
im Jahre 1895 wurde jenes riesige Kulturwerk, welches das Staunen
der ganzen Welt erregt hatte, von unserem jetzt regierenden Kaiser
Wilhelm II. eröffnet, der in den für immer im Gedächtnis der
Deutschen lebenden bedeutungsvollen Tagen vom 19.—22. Juni die
ausgewähltesten Kriegskolosse von fast allen europäischen Staaten im
Kieler Hafen um sich versammelt sah: Rußland, Österreich-Ungarn,
Rumänien und die Türkei, Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland,
Frankreich, Spanien und Amerika hatten je ein Kriegsschiff, England
und Italien je zwei entsandt, die der stolzen „Hohenzollern-1, die hoch
oben auf der Kommandobrücke unseren Kaiser trug, auf ihrer ersten
Fahrt durch den Kanal folgten. Unvergeßliche Tage, erfüllt von
dem Jauchzen des Volkes!
Ein Blick auf die Karte genügt, um über den Hauptzweck
des Werkes ohne weiteres ins Klare zu kommen; er soll die beiden
Kriegshäfen Kiel und Wilhelmshaven in kürzeste Verbindung bringen.
Ungehindert und ungesehen können unsere Nord- und Ostseeflotten
sich nun vereinigen, während dies bis dahin durch Blockierung der
Beltstraßen, oder des Skager Rak jederzeit verhindert werden konnte.
In kurzer Frist (12 Std.) vereinigt, können unsere Seekräfte vereint
schlagen, wohingegen der Feind gezwungen ist, in beiden Meeren
eine Blockadeflotte aufzustellen. Aber auch der Handelsmarine ist
er von größtem Werte. Von Kiel bis Hamburg bewirkt er eine
Fahrtverkürzung von 425 Seemeilen, bis Bremen von 320 und bis
London von 240, so daß für die erstgenannte Fahrt beinahe 2 Tage