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61. Von der Arbeit.
1. Arbeit liegt in der Natur des Menschen; ohne Arbeit kann
der Mensch und die menschliche Gesellschaft nicht bestehen. „Wie der
Vogel zum Fliegen, so ist der Mensch für die Arbeit“, sagt der fromme
Dulder Hiob, und der große Heidenapostel gebietet: „Wer nicht arbeitet,
soll nicht essen.“
Es gibt aber eine großartige Verschiedenheit der Arbeit, der körper—
lichen sowohl wie der geistigen. Und zwar ist die Verschiedenheit derart, daß
von fast allen verschiedenen Arbeitsarten eine jede einen ganzen Menschen
für das ganze Leben in Anspruch nimmt. Hieraus ergibt sich die Verschieden—
artigkeit bleibender Berufsstände, höherer und niedriger. Diese Verschieden—
artigkeit läßt sich nicht ändern, denn sie ist mit der Natur gegeben.
Dazu kommt, daß die einzelnen Menschen dem Leibe und der Seele
nach verschieden begabt sind. Eines schickt sich nicht für alle. Der eine
Mensch ist zu diesem Stande besonders tauglich, der andre zu einem
andern.
Die Arbeit ist also der Wille des Schöpfers, der die Natur der
Menschen und Dinge so eingerichtet hat und nicht anders.
2. Im Paradiese hätte die Arbeit durch ein besonderes Gnaden—
geschenk Gottes ihren Stachel, ihre übergroßen Beschwerden verlieren
sollen. Die Gnade wurde durch die Erbschuld verloren, und der Mensch
sank in die natürlichen Beschwernisse herab. „Im Schweiße deines An—
gesichtes sollst du dein Brot essen.“ Jetzt ist die Arbeit auch mit ihren
Beschwernissen wieder Naturpflicht: sie ist darum ehrenhaft.
Das alte Heidentum hatte die richtige Auffassung der Arbeit ver—
loren. In Handwerk und Arbeit erblickte es eine Erniedrigung, der sich
jeder freie Mann zu schämen hätte.
3. Da kam Christus. Von der Sünde hat er uns erlöst, aber die
zeitlichen Folgen der Sünde — bittere Leiden und harte Arbeiten — hat
er uns gelassen, damit wir uns im Geiste der Buße eine Leiter zum Himmel
zurechtmachen. Immer und immer wieder richtet er unsern Blick auf die
Ewigkeit. Hierdurch erscheint der irdische Standesunterschied als Neben—
sache; der eine in dieser, der andre in einer andern: was für eine Rolle
ein jeder auf der Bühne des Lebens spielt, erscheint als gleichgültig, wenn
er seine Rolle nur gut spielt für die Ewigkeit.
Durch sein Beispiel hat Christus die Arbeit geheiligt. Bis zum
dreißigsten Lebensjahre war er beschäftigt im Hause von Nazareth, in
der Werkstätte des Zimmermanns. Das waren gewöhnliche, aber doch
mühevolle Arbeiten, wie sie das Leben der meisten Menschen ausfüllen.