— 180 —
brauchen begangen wurde. Den größten Fremdenftrom führte jedoch
die große Fronleichnamsprozession herbei, eine Schöpfung der Jesu¬
iten. Hinter dem feierlichen Zuge erschienen, teils auf breiten,
teppichbedeckten Wagen, teils auf Brettern oder auf den Schultern
getragen, bildliche Darstellungen aus der Heiligen Schrift. Sie
wurden von lebenden Personen dargestellt und dienten nur zur
Befriedigung der Schaulust der Umstehenden. Da sah man den
Propheten Jonas im Rachen des Walfisches, David mit der
Schleuder und den Riesen Goliath, Josua und Kaleb mit der
großen Weintraube u. a. m.
Das Stadtinnere: Die Stadt selbst machte äußerlich einen
recht stattlichen Eindruck. Mit ihren zahllosen Türmen und Kirchen,
überragt vom Dom und den beiden Stiftskirchen, bot sie dem
Wanderer ein herrliches Bild, dem aber das Innere in keiner
Weise entsprach. Durch die finsteren, gewundenen Tore gelangte
man in die Stadt, falls es nicht Nacht ober am Sonntag zur
Kirchzeit war. Zu biefen Stunben waren bie Tore geschlossen
unb würben nur gegen eine Vergütung geöffnet. Am Tore be-
sanb sich bie Zoll- unb bie Akzisewache (Akzise = Verbrauchs¬
steuer), bei ber alle eingehenbe Hanbelsware versteuert werben
mußte. Hatte man bie Vorstabt burchschritten, so stanb man vor
einem zweiten Mauerring; benn bie älteste, von ber Gera um¬
flossene Befestigung war noch zum größten Teil vorhanben. Von
ihren Toren stanben bas alte Wasser-, Löber-, Johannes- unb
Augusttor (s. Nr. 21). Der mächtige Steinunterbau ber Tore war
mit bürstigen Holzhäuschen besetzt, bie man an arme Leute ver¬
mietet hatte. Durch bxcfc Tore betrat man bie eigentliche Stabt.
Ihre Straßen waren verhältnismäßig breit. Aber bas Gras wuchs
zwischen ben Steinen, ba ber Verkehr fehlte. Pflaster unb Rein¬
lichkeit ließen viel zu wünschen übrig. Ersteres war so schlecht,
baß sich an vielen Orten tiefe Löcher befanben, in benen Menschen
unb Vieh samt bem Fuhrwerk leicht verunglücken konnten. Durch
bie meisten ber Straßen war fließenbes Wasser geleitet. Diese
künstliche Bewässerung galt als eine besonbere Merkwürbigkeit
Erfurts unb biente, außer zur Bewässerung ber Gärten, ber Rein¬
lichkeit ber Stabt unb ber Gefunbheit ber Luft; ferner würbe es
in ben Brauereien gebraucht, biente zum Antrieb ber vielen Müh¬
len unb ganz befonbers zur Unterstützung ber Rettungsanstalten
beim Feuer. Eine Straßenbeleuchtung, wie sie bie größeren deut¬
schen Stäbte um 1800 bereits besaßen, fehlte noch. Wer abenbs
ausgehen wollte, mußte sich eine Laterne mitnehmen. Auch Straßen¬
schilber unb Hausnummern waren nicht vorhanben. Jebes ber
3154 Häuser hatte noch bie aus bem Mittelalter stammenbe Be¬
nennung, unter ber es allgemein bekannt war. Die Bautätigkeit
war gering. Die vorhandenen prächtigen Bauten stammten aus
älterer Zeit. Wohl aber zählte man in der Stadt über 400 wüste
Brandstätten. Nicht weniger als 15 Kirchen standen teils unge-