Full text: Auswahl aus der deutschen Dichtung in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Teil 4a = Erg.-Bd. (Poesie))

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5 Worauf ein Hühnchen sich befand, 
Kratzfuß die Emsige genannt, 
Die Reinke hatte totgebissen; 
Das sollte jetzt der König wissen. 
Hahn Henning trat zum Throne hin, 
10 Und sehr betrübt war ihm zu Sinn. 
Zwei Hähne von dem Traurgeleite, 
Als Zeugen, standen ihm zur Seite; 
Der eine nannte sich Kreyant, 
Der beste Haushahn, den man fand 
15 Von Holland bis nach Histerreich; 
Der andre war ihm völlig gleich, 
Cantard der Wackere genannt. 
Sie trugen Fackeln in der Hand 
Und sangen, als betrübte Brüder 
20 Der Toten, laute Trauerlieder, 
Beklagend ihre bittre Not 
Und ihrer Schwester jähen Tod. 
Zwei andre folgten mit der Bahr', 
Ihr Jammer weit zu hören war. 
25 Stracks redete der tapfre Hahn, 
Wie folgt, den König Nobel an: 
„Erhört, gestrenger Herr, mich Armen, 
Und laßt den Schaden Euch erbarmen, 
Den Reineke, der Bösewicht, 
30 Mir und den Meinen zugefügt. 
Kaum war der Winter jüngst vergangen, 
Und man sah Wald und Wiese prangen 
Und Kraut und Blume lieblich blühn, 
Da ward auch mir recht froh zu Sinn, 
35 Mein junges Volk um mich zu sehn; 
Denn flinker Söhne hatt' ich zehn, 
Und Töchter vierzehn an der Zahl, 
Voll Lust zu leben allzumal, 
Die mir mein kluges Weib erzogen 
40 In einem Sommer. Alle flogen 
Und schwärmten fröhlich um mich her 
Im Klosterhof; der war zur Wehr 
Mit hohen Mauern fest gemacht 
Und von sechs starken Hunden bewacht; 
45 Die hatten meine Kinder lieb, 
Und Reinke, der verschmitzte Dieb, 
Wußt' lange Zeit nichts zu ersinnen, 
Um ihnen etwas anzugewinnen. 
Oft schlich er um die Klostermauern 
50 Bei Nacht herum, uns aufzulauern; 
Doch witterten die Hunde ihn, 
So mußt' er immer schnell entfliehn. 
Einst hatten sie ihn zwischen sich 
Und rupften ihn so grimmiglich. 
Daß er die Flucht in Ängsten nahm 55 
Und lange Zeit nicht wiederkam. 
Allein wie ging's uns, gnäd'ger Herr? 
Jüngst kam er als ein Kläusener 
Mit einem Briefe in der Hand, 
Worunter Euer Siegel stand. 60 
Durch diesen Brief gebotet Ihr 
Den Frieden jedem Vogel und Tier. 
Er sprach, er wär' jetzt Mönch geworden 
In einem von den strengsten Orden, 
Woselbst er ernstlich büßen wollte; 65 
Daher ich mich nicht fürchten sollte, 
Denn vor ihm könnt' ich sicher leben, 
Weil er des Fleisches sich begeben. 
Er zeigt' auch Kutt und Skapulier 
Und einen Brief vom Prior mir 70 
Und auf der Haut ein Kleid von Haar, 
So daß ich ganz beruhigt war. 
Drauf ging er fort und grüßte mich. 
Sprach: „Gott dem Herrn beseht' ich dich; 
Denn ich muß jetzt mein Amt verwesen 7 5 
Und Sexte, Non' und Vesper lesen." 
Hierauf entfernt' er sich zum Schein, 
Damit ich möchte sorglos sein. 
Ich eilte stracks mit frohem Sinn 
Zu meinen lieben Kindern hin, 80 
Die guten Dinge zu verkünden, 
Die in dem offnen Briefe stünden, 
Und daß jetzt Reineke nicht mehr, 
Als Mönch, für uns gefährlich wär'. 
Wir wagten uns aus dem Gemäuer, 85 
Da traf uns böses Abenteuer: 
Denn Reinke wußte in den Hecken 
Sich vor uns listig zu verstecken, 
Kam aber schleichend uns zuvor 
Und unterlief uns unser Tor, 90 
Nahm meiner Kinder eins beim Nacken, 
Fuhr fort, ein zweites anzupacken; 
Und seitdem sichern weder Hunde, 
Noch Mauern uns zu keiner Stunde. 
Er kehrt sich nicht an Hut und Wacht 95 
Und paßt uns auf bei Tag und Nacht, 
Raubt, würgt und mordet meine Kinder, 
Und ihre Zahl wird täglich minder. 
Zwanzig und vier hab' ich gehabt; 
Die hat er mir schon weggeschnappt 100 
Bis auf die letzten fünf; nicht mehr 
Sind mir jetzt übrig, gnäd'ger Herr. 
Erst gestern haben unsre Hunde 
Dem Räuber in der Abendstunde
	        
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