E. Die Gewebeindustrie. 203
Auch als Ausfuhrindustrie spielt also die Seidenindustrie eine bedeutende
Rolle. Der Hauptmarkt der deutschen Seidenwaren liegt aber in Deutschland
selbst, das mit einem immer größeren Verbrauch auftritt und z. B. von der
Crefelder Produktion mehr als die Hälfte aufnimmt. Der Wert der ganzen
Produktion wurde 1897 auf etwa M 210 Mill. berechnet und mag jetzt wohl
über M 400 Mill. betragen.
Sehen wir so auf allen Seiten eine Aufwärtsentwickelung der Industrie,
so ist dagegen die Zahl der Betriebe und der beschäftigten Personen stark
zurückgegangen, der Großbetrieb die herrschende Betriebssorm geworden. Im
rheinischen Gebiet z. B. ist während der Jahre 1882—95 die Arbeiterzahl von
67000 auf 45000 gesunken. 1907 bestanden 9322 Seidenwebereien und
-Spinnereien, in denen 75650 Personen beschäftigt wurden, davon arbeiteten
72°/o (54160) in Großbetrieben. Während also in der Zeit von 1882, 95 ein
Rückgang der Personen zu verzeichnen war, hat sich die Industrie im letzten
Jahrzehnt so stark entwickelt, daß sich auch die Zahl der Beschäftigten trotz
vermehrter Maschinenarbeit wieder vermehrt hat. 1884 standen in Crefeld
35600 Handstühlen nur 2100 Kraftstühle gegenüber, 1905 wurden nur noch
3660 Handstühle, aber 9440 Kraftstühle gezählt. Die größte Abnahme (98 %)
ist in der Herstellung von Samt, dem Haupterzeugnis Crefelds, zu verzeichnen.
Ein Webstuhl für Samt stellt 6 Stücke zugleich her, und die von einem
Stuhl verarbeitete Menge an Rohmaterial ist z. B. von 1872—90 von 29 auf
1414 kg gestiegen. Die Einführung des mechanischen Webstuhls, besonders
auch des Jaeqnardwebstuhls (s. S. 183), der zu gleicher Zeit 15 verschiedene
Farben anwendet, hat die Seidenindustrie zur Blüte und zur Konkurrenz-
fähigkeit auf dem Weltmarkt gebracht.
Besonders hervorzuheben ist, daß in der Seidenindustrie nicht nur wirkliche Seide,
sondern auch sehr viel merzerisierte Baumwolle, größere Mengen Wolle und mehr und
mehr aus Zellulose hergestellte Kunstseide (s. S. 192) verarbeitet werden. Allein der
jährliche Verbrauch von Kunstseide wird auf 5 Mill. kg geschätzt, die Einfuhr betrug 1909
M 22 Mill., die Ausfuhr M 10 Mill.
f) Die Textilveredelungsindustrie.
Die Textilveredelungsindustrie, auch Ausrüstungsindustrie genannt, umfaßt die
Arbeiten der Verschönerungstechnik (f. S. 192), zerfällt also in die Bleicherei, Färberei,
Druckerei und Appretur.
Gerade die deutsche Veredelungsindustrie hat sich einen bedeutenden Ruf erworben.
Daher ist z. B. auch der aktive Veredelungsverkehr, der in der (zollfreien) Einfuhr aus-
ländischer Waren nach Dentfchland zum Zwecke der Veredelung und Wiederausfuhr
besteht, viel beträchtlicher als der passive (zollfreie Ausfuhr deutscher Waren nach dem
Auslande zur Veredelung und Wiedereinfuhr). Diese Stellung der Ausrüstungsindustrie
hat ihren Grund einmal in dem allgemeinen Aufschwünge der Textilindustrie überhaupt,
wozu allerdings ihre Leistungen selbst einen großen Teil beigetragen haben, sodann vor
allem in den Leistungen Deutschlands auf dem Gebiete der Chemie. Die Erfindungen
des letzten Jahrhunderts haben für die Veredelungsindustrie eine vollkommene Umwälzung
herbeigeführt, die größte in der Kattundruckerei durch die Erfindung des Alizarins
(s. S. 170). Die Fortschritte der chemischen Industrie haben ihre Wirkungen dadurch
auch auf die übrige Textilindustrie ausgedehnt.