222 
117. Das Tränenkrüglein. 
Einer jungen Frau war ihr einziges Kind gestorben. Da 
ward die Frau über alle Maßen traurig, konnte ihr Herz gar 
nicht mehr zur Ruhe bringen und ging jede Nacht hinaus nach 
dem Grabe. Dort jammerte sie, daß es die Steine hätte er¬ 
barmen mögen. Da war es in der Nacht vor dem Dreikönigs¬ 
tage. Wieder saß die Frau weinend am Grabhügel, als sie 
in der Ferne Frau Holle mit den kleinen Kindern vorüber¬ 
ziehen sah. Die waren alle frohgemut. Nur ein einziges lief 
hinterdrein mit einem ganz durchnäßten Hemdehen. In der 
Hand trug es ein Krüglein mit Wasser und war so müde, daß 
es dem Zuge kaum folgen konnte. Ängstlich blieb es vor einem 
Zaune stehen, den Frau Holle überschritt und die Kinder jauch¬ 
zend überkletterten. 
Die Mutter erkannte in diesem Augenblick ihr Kind, eilte 
hinzu und hob es über den Zaun. Während sie es noch in 
den Armen hielt, fing das Kindlein plötzlich an zu reden und 
sagte: „Ach, wie warm sind Mutterhände! Aber weine nicht 
so sehr! Du weinst mir meinen Krug sonst gar zu schwer und 
voll. Da sieh, ich habe mir mein ganzes Hemdehen schon da¬ 
mit beschüttet.“ 
Seit jener Nacht weinte die Mutter nicht mehr. 
Max Geißler. 
118. Schäfer Moritz. 
An einem herrlichen Septembertage vor hundert Jahren 
weidete der junge Schäfer Moritz seine Herde an einem Hange 
des waldigen Harzgebirges. Hoch oben sang froh eine Lerche, 
die hing an einem Sonnenstrahle wie ein klingender Stern. 
Aus dem Walde heraus rauschten die Bächlein in das um- 
goldete Herbsttal hernieder, und in den Lüften schwammen 
viele silberne Spätsommerfäden. 
In Gedanken versunken, saß der Schäfer im Grase der 
Waldwiese, aus der die blassen Herbstzeitlosen hervorleuch¬
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.