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117. Das Tränenkrüglein.
Einer jungen Frau war ihr einziges Kind gestorben. Da
ward die Frau über alle Maßen traurig, konnte ihr Herz gar
nicht mehr zur Ruhe bringen und ging jede Nacht hinaus nach
dem Grabe. Dort jammerte sie, daß es die Steine hätte er¬
barmen mögen. Da war es in der Nacht vor dem Dreikönigs¬
tage. Wieder saß die Frau weinend am Grabhügel, als sie
in der Ferne Frau Holle mit den kleinen Kindern vorüber¬
ziehen sah. Die waren alle frohgemut. Nur ein einziges lief
hinterdrein mit einem ganz durchnäßten Hemdehen. In der
Hand trug es ein Krüglein mit Wasser und war so müde, daß
es dem Zuge kaum folgen konnte. Ängstlich blieb es vor einem
Zaune stehen, den Frau Holle überschritt und die Kinder jauch¬
zend überkletterten.
Die Mutter erkannte in diesem Augenblick ihr Kind, eilte
hinzu und hob es über den Zaun. Während sie es noch in
den Armen hielt, fing das Kindlein plötzlich an zu reden und
sagte: „Ach, wie warm sind Mutterhände! Aber weine nicht
so sehr! Du weinst mir meinen Krug sonst gar zu schwer und
voll. Da sieh, ich habe mir mein ganzes Hemdehen schon da¬
mit beschüttet.“
Seit jener Nacht weinte die Mutter nicht mehr.
Max Geißler.
118. Schäfer Moritz.
An einem herrlichen Septembertage vor hundert Jahren
weidete der junge Schäfer Moritz seine Herde an einem Hange
des waldigen Harzgebirges. Hoch oben sang froh eine Lerche,
die hing an einem Sonnenstrahle wie ein klingender Stern.
Aus dem Walde heraus rauschten die Bächlein in das um-
goldete Herbsttal hernieder, und in den Lüften schwammen
viele silberne Spätsommerfäden.
In Gedanken versunken, saß der Schäfer im Grase der
Waldwiese, aus der die blassen Herbstzeitlosen hervorleuch¬