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Sechster Abschnitt.
Beim Ackerbaufeste ist der höchste Mandarin fast ganz mit Blumen bedeckt,
und das Volk schmückt sich mit Blumenkränzen. Feiern die Bewohner von
Ceylon ihr großes Nationalfest, so eröffnen sie die große Prozession mit fünfzig
blumengeschmückten Elefanten; der Oberpriester trägt einen mit Blumen um¬
wundenen Stab, und alle Häuser sind mit Blumen und grünen Maien geziert.
Selbst die rohesten Völker zeigen oft eine Vorliebe für Blumen. Und auch wir
Europäer haben ja Blumen so gern; jeder Blumenladen, jede Blumenausstellung,
ja, fast auch jeder Garten liefert den Beweis dafür. In der neuen Zeit hat
man auch angefangen, zu der alten, schönen Sitte, sich mit natürlichen statt
der künstlichen Blumen auf Bällen und bei Festlichkeiten zu schmücken, wieder
zurückzukehren.
So erscheinen die Pflanzen, die Blumen als die lieblichen Begleiterinnen auf
unserem Lebenspfade, so stumm und doch so beredt, so geheimnisvoll und doch
so klar redend zu unserem Herzen. Für jede unserer Seelenstimmungen haben
sie eine eigene Sprache.
13. Deutschlands Nadelhölzer.
E. A. Roßmäßler, Flora im Winterkleide. Leipzig. 1853.
Wenn die Nadelhölzer auch ganze Flächen von mehreren Geviertmeilen
in unseren Gebirgszügen mit Wald bedecken, ohne andere Bäume zwischen
sich zu dulden, so sind es doch nur wenige Arten, etwa sechs oder sieben.
So mächtig ist der Unterschied zwischen einem Laub- und einem Nadelwalde,
daß sie einen ganz verschiedenen Eindruck auf unser Gemüt und unsere
Phantasie hervorbringen. Im Laubwalde, sei es ein reiner Buchen- oder
Eichenbestand, oder sei er aus Eschen, Hornbäumen, Erlen, Ulmen, Birken
und anderen Laubhölzern bunt zusammengesetzt, — immer ist der Eindruck
auf uns ein mehr wohltuender, traulicher. Die breiten, weit ausgreifenden
Kronen erlauben nicht, daß die Stämme sehr dicht beisammen stehen, und
immer finden wir zwischen ihnen eine üppige Busch- und Kräuteroegetation,
über die hinweg das Auge meist weit hinein in die Säulenhallen schweifen
kann. In den Wipfeln schallen die Lieder der Vögel, welche zwischen den
gabeligen Zweigen oder in den Astlöchern ihre Nester bauen, und der Wind
rauscht dazu seine kräftigen Akkorde durch die'Blättermassen. Jede Wendung
unseres Pfades verändert das schöne Waldbild, immer neue Baumgruppen,
immer kühner und abenteuerlicher geschwungene Aste wechseln unaufhörlich vor
unserem Auge und geben unserer Phantasie immer neue Nahrung. Wir treten
gestärkt und doch auch erheitert aus einem Laubwalde auf die sonnenbeleuchtete
Ebene hinaus.
Aus einem Nadelwalde, — die Volkssprache nennt ihn ja auch bezeichnend
Schwarzwald —, treten wir in feierlicher, ernster Stimmung. Uns empfing
in ihm das ewige Einerlei der dicht gedrängt stehenden, schnurgeraden Stämme,
von denen hoch oben, — denn unten haben sie sich des dichten Schlusses
wegen, wie der Forstmann sagt, „gereinigt" —, die herabgeneigten Äste
sich zu dem grünen Teppiche verschränken, dessen einzelne Fäden in der Höhe
verschwinden; denn Ästchen und Nadeln sind zu fein, um sie gleich den
Blättern der Laubhölzer von unten erkennen zu können. Hoch oben aus dem
letzten Triebe der immer und immer nach oben strebenden Bäume sitzen die