SC2 Dr. Martin Luthe?« 
gewaltsamen Ausbruche verhindert. Die irdischen Gewalthaber ent- 
äußerten sich der Ehrfurcht vor ihrer Erzieherin, der Kirche, bildeten 
eigenmächtig Begriffe von Oberhoheitsrechten, bestärkten sich in ihrer 
falschen Stellung durch die traurigen Zeitumstände, die sie zum Theil 
mit veranlaßt halten, und gewannen einen überwiegenden Einfluß un¬ 
ter dem Vorwände, daß es in ihrer Pflicht liege, die Verbesserung der 
Kirche in Haupt und Gliedern zu fördern. Die Fürsten in Deutsch¬ 
land waren viel zu mächtig geworden. Sie lenkten seit langer Zeit 
am liebsten die Wahl auf ein Oberhaupt, das aus eigenen Kräften 
ihnen nicht imponiren konnte; verkauften ihre Stimme für die Präro¬ 
gative der Landeshoheit, für neue Reichsgüter, Zölle und Münzgerech¬ 
tigkeit, und gegen Abtretung von Burgen und Schlössern; ließen sich, 
was sie ihren Untergebenen abgedrungcn, in Augenblicken der Roth 
durch kaiserliche Briefe und Diplome als ewige Gerechtsame bestätigen; 
erlangten dadurch immer größere Territorialgewalt, die sie nicht selten 
durch ungerechte Kriege und Ueberfälle erweiterten, und wußten zuleyt 
Land und Leute als Erb- und Eigentyum ihrer Familien sicher zu 
stellen. Die Streitigkeiten der Fürsten wurden selten mehr durch hö¬ 
heren Ausspruch des Reichsoberhauptes geschlichtet, von dem sie ohne¬ 
dies behaupteten, daß es ihnen, vermittelst der Wahl, jegliche Macht 
und Würde verdanke; sie verschafften sich Selbsthülfe durch das Schwert, 
trotzten dem Kaiser, griffen eigenmächtig in dessen Gerechtsame ein, 
droheten ihm bei jedem Mißverständnisse mit der Absetzung und ließen 
ihn zur Aufrechthaltung der Würde des Reichs nach außen hülflos. 
Kleinere Dynasten und Ritter strebten auf jede Weise nach Unabhän¬ 
gigkeit, befehdeten die Fürsten, plünderten und mordeten ihre Gegner, 
Einzelne, Städte und größere Gebiete, lauerten in den festen Schlössern 
auf die sichere Beute, verwüsteten die Felder und Weinberge und trie* 
ben seit geraumer Zeit das Räuberhandwerk als ein erlaubtes, ehrbares 
Geschäft. Zu besserm Erfolge errichteten sie Bündnisse unter sich gegen 
die durch Handel reichgewordenen Städte, die hinwiederum gegen den 
gemeinsamen Feind sich verbanden und, da sie umsonst das Reichsober- 
haupt um Schutz anfleheten, zuletzt zu kleinen Republiken sich ausbilde- 
ten, wo Parteien gegen Parteien sich feindselig erhoben. Am meisten litt 
bei dieser allgemeinen Gesetzlosigkeit das Landvolk; aber nicht ohne 
heftiges Murren, nicht ohne mehrfachen Versuch, an den Bedrückern 
furchtbare Rache zu nehmen." 
So standen die Verhältnisse in Deutschland vör Luther's Auf¬ 
treten. Eine friedliche Ausgleichung, eine durchgreifende Regeneration 
war nur möglich durch gemeinsames, kräftiges Wirken der päpstlichen 
und kaiserlichen Gewalt; aber gegen beide herrschten Mißtrauen und 
Eifersucht; die selbstsüchtigen Bestrebungen gingen immer weiter aus¬ 
einander, säeten Mißvergnügen und Zwietracht in allen Kreisen und 
schwächten die zwei höchsten Autoritäten der Christenheit, von welchen 
einzig die ächte Neugeburt Europa's ausgehen konnte. Auf diese Weise 
mußte es zu einer gewaltsamen Lösung kommen, welche durch Luther 
veranlaßt wurde. Wir haben daher vor Allem die Lebensumstände 
und den Charakter dieses Mannes näher kennen zu lernen. 
§, 102. Dr. Martin Luther; Ausbruch der Reformation. 
4. Martin Luther, der Sohn eines armen Bergmannes, 
wurde am 10. November 1483 zu Eisleben geboren. Bald nach seiner
	        
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