§ 287. 111. Teil: Mittel- und West-Europa; die Niederlande. 306
Hand gelegt hatte, zugesprochen. Die Niederländer haben also ihre Vormachtstellung
eingebüßt durch ihre von den benachbarten Großstaaten England und Frantreich
zugleich gefährdete Lage. Gezwungen, es bald mit dem einen, bald mit dem
andern zu halten, drohten ihm bald die Kriegsschiffe Englands, bald die Heere
Ludwigs XIV., der Revolution oder Napoleons. ~ Die Vereinigung mit Belgien, die
der Wiener Kongreß schuf, nahm schnell ein Ende (s. Belgien, g 270). Das Königreich hat die
schweren Schläge aus den früheren Jahrhunderten inzwischen infolge seiner günstigen Lage über-
wunden und befindet sich in sstetem gesunden Aufstieg. Seine beiden Häfen Rotterdam
und Amsterdam, die neben Hamburg und Antwerpen immer die Hauptvermitte-
lungspunkte zwischen dem europäischen Festlande und den übersseeischen Staaten
bilden werden, sichern ihm auf alle Fälle eine hervorragende Stellung unter den
Handelsvölkern.
§ 287. Die Niederlöader haben sich aber nicht bloß ihrer wirtschaftlichen und politischen
Wohlfahrt, sondern in hohem Maße auch den Wisssenschaften und Künsten gewidmet. Leiden,
Amsterdam und Utrecht waren Brennpunkte der europäischen Wissenschaft, und Gelehrte wie
Erasmus von Rotterdam (Sprachgelehrter f 1536), Hugo Grotius (Rechtslehrer f 1645), Descartes
(genannt Cartesius, Philosoph f 1650), Huyghens (pr. heuchens, Physiker f 1695) nehmen in
der Geschichte der Wissenschaften eine hervorragende Stelle ein. Überstrahlt werden die
Leistungen niederländischer Wissenschaften aber von dem Ruhm der niederlän-
dischen Malerei (s. darüber g 265 und den Anhang).
Zusa mmenfasssung: Das aus Friesen, Franken und Sachsen zusammengeschmol-
zene Volk erringt im Kampfe gegen Philipp II. seine Unabhängigkeit (1581), schwingt
sich infolge seiner günstigen Seelage bald zum reichsten Handels- und Kolonialvolk
der Welt empor (1600-1700) und erwirbt sich zugleich auf den Gebieten der Wissenschaft
und Kunst (Rembrandt) unvergängliche Verdienste. Auf die Dauer kann es aber seine
Seeherrschaft gegen das größere England nicht aufrecht erhalten, zumal es auch von
Frankreich hart bedrängt wird. Es ist aber auch heute noch eins der ersten Handels-
völker der Erde.
2. Das Volkstum.
(Nationalität und Charakter, Konfession und Bildung, Volksdichte. )
§ 288. (1. Nationalität.) Die Bewohnersind zu fast Dreiviertel Holländer
(71 %); auf die Friesen - an der Nordseeküste - entfallen 14, auf die Flamen, die
sich von Belgien aus (s 271) in den Südteil hineinschieben, 13, auf die Niederdeutschen
2 %. Die holländische Sprache hat sich aus einer niederdeutschen Mundart zu einem
selbständigen Zweig des deutschen Sprachstammes entwickelt. Sie hat zwar noch
keine Bedeutung für die Weltliteratur, wohl aber für den Weltverkehr.
(2. Charakter.) a) Die Niederländer sind stille, ruhige, fastphleg matischeMenschen
von großem, starkem Körperbau. „Wenn man sieht, wie der Bauer in seinen hohen Holzschuhen
langsam und bedächtig einherschreitet und mit behaglicher Miene und langsamer, breiter Rede
uns begegnet, so denkt man, das alte Geschlecht der Kyklopen, das diese Mauern, Türme, Wälle
und Deiche auftürmte, müsse wohl ausgestorben und ein matteres Geschlecht an ihre Stelle ge-
treten sein." Aber gerade die vollbrachte gewaltige Arbeit gibt, zusammen mit dem Wohlstand,
dem Volk das Gefühl einer behäbigen Würde, und das Bewußtsein, stets gegen die bezwungenen
Gewalten auf der Hut sein zu müssen, macht sie besonnen und bedächtig. Gegen Fremde sind
sie zunächst kalt, bei näherer Bekanntschaft aber von aufrichtiger Herzlichkeit. b) Groß ist der
Freiheits- und Unabhängigkeitssinn des Volkes, eine Folge des steten Kampfes gegen die
drohenden Naturgewalten wie gegen fremde Bedrücker. Religiöse und politische Duldsamteit
hatte früh in dem kleinen Freistaat eine Stätte, und die politischen und öffentlichen Verhältnisse
sind auch heute, ähnlich wie in England, besonders freiheitlich gestaltet. c) Sprichwörtlich ist die
Sauberkeit der Niederländer. Vielleicht ist die feuchte Luft Veranlassung, daß sie ihre Häuser
stets unter frischem, das Auge freundlich berührenden Farbenanstrich halten, aber auch die Gärten
sind ungemein sauber und meist zierlich mit Muscheln und Steinen ausgelegt, und von manchen
Viehsställen sagt man mit Recht, daß auch eine Prinzessin mit Schleppkleidern sie betreten könne.
Überhauvt wird in keinem andern Lande soviel gescheuert, geputzt und aebohnert wie hier. Sauber,