36 Aus den Alpen.
wahres Meisterwerk von Festigkeit und Schönheit. Ihre Breite beträgt 5 in;
sie steigt nirgends über 9 % und erklimmt auf einer Strecke von 2 Stunden
die Paßhöhe in 6 Windungen so bequem, daß selbst aufwärts im Trabe ge-
fahren werden kann. Die Straße ist meist mit weißem Marmor belegt und
läuft durch das Thal des Oberhäuslibachs, durch ein Felsenthor und später durch
eine vor Schneesturm und Lawinensturz schützende 85 in lange Galerie aus-
wärts. Die 2117 in betragende Paßhöhe, welche die Grenze zwischen der
Schweiz und Italien bildet, wird rechts durch das Tambohoru (3276 m),
links durch das Snrettagebirge überragt; beide sind von gewaltigen Gletschern
und Schneefeldern umlagert. Nachdem eine öde, baumlose Ebene auf der Paß-
höhe zurückgelegt worden ist, werden wir in zahlreichen Windungen abwärts
geführt. An den von Lawinen bedrohten Stellen ist die Straße durch groß-
artige Galerien geschützt, deren längste 516 in lang und mit Bogenfenstern
versehen ist. In der Nähe von Pianazzo folgt der herrliche 260 in tiefe
Wasserfall des Madesimo, der sich von einer vorspringenden Steinterrasse gut
übersehen läßt, dann führt die Straße durch drei Felseuthore in kühnen Win-
düngen weiter nach Campo Dolcino, das schon mildes Klima, jedoch größ-
tenteils noch Alpencharakter zeigt. In dem weiteren Verlaufe des Lirothals
tritt die südliche Vegetation mehr und mehr hervor, zunächst mit der Edel-
kastanie, die erst vereinzelt, dann waldartig vorkommt, später mit köstlichen,
lanbenartig gezogenen Weingärten und Feigenbäumen, zu deueu in Chiavenna,
das wir endlich erreichen, Pomeranzen, Limonen, Citronen, Granaten, Oliven
und Mandeln treten. Wir sind in Italien, dem Lande der Sonne und der
Freude, angelangt, wohin wir von dem Dorfe Splügen aus über 56 Brücken
uud unter 54 kühnen Windungen der Kunststraße geführt wurden.
10. Der Comer See.
Von Chiavenna erreichen wir in kaum dreistündiger Postsahrt Colico
am Comer See, von wo wir dreimal täglich unter Berührung der wichtigsten
Punkte bis Como am südwestlichen Zipsel des Sees mit dem Dampfboote
fahren können. Die landschaftlichen Schönheiten, das milde Klima, die wnnder-
volle südliche Vegetation, das herrliche Blaugrün des Wasserspiegels, die reichen
Villen, zauberischen Gärten und Terrassen, Wasserfälle und steilen Uferberge
mit Dörfern, Kirchen und Kapellen machen den Comer See zu dem geuuß-
reichsten Italiens. Schon Virgil, die beiden Plinins und Clandian verherrlichen ihn
als Lacus Larius und bis in die neuere Zeit hinein besangen ihn Dichter aller
Nationen. — An seinem nördlichen Anfange, zwischen Sorieo und Colico,
mündet die Ad da mit einem Delta; an der Mündung des Varrone verengert
sich der See bis auf 966 in Breite; weiter südlich erreicht er mit 5,ö km seine
breiteste Stelle, dann scheidet er sich in zwei Arme, von denen der westliche
höchstens 2,7 km breit und 25 km lang, der östliche bei derselben Breite nur
18 km lang ist. Die größte Tiefe des Sees beträgt 416 in, fein Flächeninhalt
143 dkm. Die umgebenden Gebirge, welche an ihren Vorbergen trefflich
angebaut sind, erheben sich zu bedeutender Höhe und reichen teilweise bis in
die Gletscherregion hinein. Am Comoarme des Sees sind die Berge bis zur