Full text: Bilder-Atlas zur Geographie von Europa

Die Gstalpen. \5 
Ufergehänge nahezu senkrecht auf, und die jähen Wände setzen sich noch tief unter den: Wasser- 
spiegel fort. Nur da und dort gestattet die minder steile Uferböschung die Lntwickelung einer 
Vegetationsdecke, aber die schwarzgrünen Nadelwälder verstärken durch ihre finstere Färbung 
noch den Lindruck des Lrnsten und Erhabenen. Lin vereinsamtes Haus, eine Kapelle, ein 
Fischer mit seinem Kahne bilden die spärliche Kulturstaffage dieser Gewässer. 
Line eigenartige Stellung unter den alpinen Randseen nimmt der Bodensee (S. 70) 
ein, indem der Obersee, dessen Ufer noch die Ausläufer der Vorarlberger und Algäuer Alpen 
berühren, mehr den Charakter der vorerwähnten Randseen, der Untersee mit seinem sanft¬ 
gewellten Moränengelände und seinen fruchtstrotzenden Gärten und Nebenhügeln dagegen 
mehr die Natur der Hochebenen- oder Vorlandseen aufzeigt. Der weitaus größte Teil des 
Seebeckens gehört dem Hügellands an, und dieser Umstand erklärt sowohl seine dichte Besiede- 
lung, wie den außerordentlich regen Verkehr, der ihn vor allen anderen Alpenseen auszeichnet. 
Hier drängt sich Ort an Ort, Villa an Villa; Schlösser und Parkanlagen schmücken allent- 
halben das Ufer. Im Westen erhebt sich, wie eine Lotosblume aus der Spiegelfläche des 
Sees auftauchend, die alte Reichsstadt Lindau, das deutsche Venedig, mit zahlreichen Türmen 
und ausgedehnten Hasenanlagen. Die günstige geographische Lage des Sees am Berührungs- 
punkte von fünf kulturell hochentwickelten Staaten, seine leichte Zugänglichkeit von allen Seiten, 
die dichte Besiedelung der User, wie der starke Fremdenverkehr in der schönen Jahreszeit, 
endlich der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Bodenprodukte (1Vein, Obst, Gemüse, 
Getreide), diese verschiedenen Umstände zusammengenommen lassen es begreiflich erscheinen, 
daß der Bodensee der belebteste aller Alpenseen ist, selbst den Genfer See nicht ausgenommen, 
prächtige Personendampfer, schwerbeladene Segelboote, riesige Trajektschiffe, welche ganze 
Güterzüge von Ufer zu Ufer schleppen, und eine große Fischerflottille durchkreuzen den See 
fortgesetzt nach allen Richtungen. Daher gewährt auch das Handels- und Verkehrsleben in den 
Häfen von Lindau, Bregenz, Friedrichshafen, Konstanz 2c. hohes Interesse. 
Die letzte Gruppe eigentlicher Alpenseen bilden jene weltfernen, kleinen Wasserbecken, 
Bergaugen kann man sie nennen, die meist über \000 m hoch liegen und am oberen Thalende 
in die Felszirken der wasserscheidenden Gebirgskämme eingelassen sind, wie die Gosauseen am 
Dachstein (S. 70). Ode ist ihre ganze Umgebung; kahle Felsenmauern starren über ihnen 
empor; grobes Steingetrümmer begrenzt sie, wohl auch der Abbruch eines Schneelagers oder 
die zerschrundete Liswand eines Gletschers. Nur an einzelnen kleinen Sandflächen des Ufers 
wuchern samtgrüne Moosrasen, mitunter auch zerstreut umherstehende Blütenpflänzchen. Im 
Frühsommer deckt noch eine feste Liskruste den See, und der Frost einer Herbstnacht genügt, 
ihn wieder zu schließen. Reine weidende Herde verirrt sich mehr zu diesen eiskalten Wasser- 
spiegeln, nur kletternde Gemsen, eine sich sonnende Murmeltierfamilie, ein kreisender Lämmer- 
geier, manchmal ein eifriger Naturforscher, ein beutebegieriger Schütze oder ein kletterlustiger 
Tourist bilden eine vorübergehende Staffage zu dem tiefernsten Gemälde und werfen einen 
flüchtigen Schatten von Leben in diese versteinerte Natur. 
Die schweizerischen Zentralalpen finden ihre Fortsetzung östlich vom Rhein in den Gneis- 
und Glimmermassiven Tirols, Kärntens und Steiermarks, wo sie an Höhe allmählich ver- 
lieren und in auseinander tretende Retten sich auflösen. Mit der Verminderung der Höhe und 
der Entfernung vom Atlantischen Ozean, dem Negenspender der Alpen, tritt naturgemäß auch 
das Gletscherphänomen mehr zurück, was sich recht deutlich in der hohen Lage der Gletscher- 
enden ausspricht, während das Mer de glace bei Thamounix bis \050 m herabsteigt, liegt 
das Ende der Pasterze am Großglockner (S. 72) fast \000 m höher (J950 m). 
Den Gipfelpunkt landschaftlicher Schönheit erreichen die Gstalpen in den Süd tiroler 
Dolomiten (S. 73 u. 7^). „wer hätte jemals unglaublichere Formen gesehen!" ruft Karl 
Witte aus, der ausgezeichnete Naturschilderer dieser Landschaft. Aus der grünen Wiesenfläche 
starren sie empor, diese Felsentürme, senkrecht, nackt und tausendfach zerklüftet. Da haftet kein 
Sträuchlein oder Moos, ja nicht einmal der Gemse flüchtiger Fuß. Und jene breite Felsen- 
masse, die auf den ersten Blick ein Ganzes schien, sie zerfällt bei näherer Betrachtung in das 
wunderbarste Gewirr unzähliger einzeln stehender Pfeiler, Säulen und Obelisken, so daß wir 
hier unsere übliche Vorstellung von dem Begriffe Berg ändern müssen. Und dennoch nicht 
halb so erstaunlich wären diese seltsamen Felsenmassen, träte nicht noch eines hinzu: ihre
	        
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