Full text: Bilder-Atlas zur Geographie von Europa

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I. Die Alpen. 
wunderbare von Weiß und lichtem Grau bis ins Blaßrötliche spielende Farbe. haftet an heiteren 
Tagen die aufgebende oder scheidende Sonne an diesen glatten Felsensäulen, so weckt sie eine 
Farbenglut, wie selbst Sizilien sie in größerer Fracht nicht zu bieten hat. Da ist es, als sei 
der Berg in seinem Innersten entbrannt und leuchte aus sich heraus in: feurigsten Not. Oft 
scheint es schlechthin unmöglich, sich zu überzeugen, daß, was dort glüht wie der aufgehende 
Mond, nichts anderes als dürrer Felsen sei. Wer hätte je von Bozen oder von: Ritten aus den 
Schient in solcher Glorie gesehen und könnte des Anblickes wieder vergessen? Lin anderes 
Mal schwebt ein leichter Nebelduft am Abendhimmel. Dann mildert sich die Glut der Be- 
leuchtung, und über all die Felsentürme breitet sich ein weicher Rosenschleier, der sich in den 
Klüften bis zum violett vertieft. So versteht man, warum des Volkes Mund diese Marmor- 
stämme, dieses wirr verästete Gestein, das der 2lbendsonnenschein mit lichten Rosen überkleidet, 
den Rosengarten nennt." 
Versuchen wir einen Einblick in den Aufbau dieser merkwürdigen Landschaft zu gewinnen. 
Zu diesem Zwecke wandern wir zunächst von Bozen (259 m) Zwischen Wein- und Obstgärten 
am westlichen Thalgehänge aufwärts, vorüber an den berühmten Erdpyramiden (S. 7^) nach 
dem Dorfe Oberbozen (^66 m). Ein rascher Umblick lehrt uns, daß wir hier auf einer aus- 
gedehnten welligen j^lateaustufe stehen, in die dieThäler derEtsch undEisackmit ihren frucht- 
baren, burgengekrönten Gehängen, mit den berühmten Weinorten Tramin, Terlan, Lana und 
anderen eingesenkt sind. Der Boden dieses Plateaus setzt sich aus altvulkanischem Gestein, aus 
Porphyr, zusammen, der sich in dieser Thalsenke deckenartig ausgebreitet hat. Auf die L?öhen 
dieses waldreichen, kühlen Plateaus flüchten sich die Bewohner der Thäler, wenn in den Som- 
mermonaten die Bitze in der Niederung unerträglich wird. 
Die zweite I^öhenstufe, das Tuffplateau, gleichfalls vulkanischen Ursprunges, erreichen 
wir auf der Seiser Alp (S. 7^). Es ist dies eine wellige, im Mittel \000 m hohe Fläche 
zwischen Eisack, Grödener Thal und Schlern. Bezeichnet das tiefer gelegene jDorphyrplateau 
die Waldregion, so ist die höhere Tuffterrasse das Land der Alpenmatten. Ausgedehntere 
und üppigere Wiesengründe als hier findet man in: ganzen Bereiche der Alpen nicht mehr, 
ja selbst die berühmten Algäuer Weidegründe müssen gegen sie zurücktreten. „Die Seiser 
Alp", sagt Witte in seiner begeisterten Schilderung, „ist ein Gottesgarten voll balsamischer, zum 
Teil seltenster Alpenkräuter. Wie sollte den: Botaniker nicht das Herz aufgehen, wenn ihn 
zwischen den stolzen Gentianen die prachtvollsten Orchideen und die buntfarbigen Alpenaurikeln 
anlachen! Aber auch dem Laien weitet sich die Brust beim Einatmen des würzigen Kräuter- 
duftes. Auf dem grünen Wiesenplane schimmern an 70 Senn- und ^00 Heuhüttchen, und im 
Sommer weiden da mehr als \000 Stück Rinder. Welches Leben, wenn im August oder Sep- 
tember Mäher und Mäherinnen von allen Seiten heraufgestiegen kommen zum Heuen und 
die Sense über die grüne Fläche hin erklingt!" Die Seiser Alp mißt Stunden im Umfange. 
Aus diesen lebensvollen Gefilden erheben sich in: grellsten Gegensatze hierzu die vielgestal- 
tigen, seltsam zerrissenen und zerspaltenen Dolomitgebirge als die dritte und höchste Hoch- 
ebene, die in einzelne getrennte Stöcke mit meist turmartigen Randpfeilern aufgelöst ist. 
Sie bildet zumeist die Umwallung der vorgenannten Stufe, aus welcher die kahlen Felsen- 
mauern und bizarren Formen der Kämme mit ihren Steinmeeren unvermittelt, gleich Felsen- 
rissen int Meere, aufsteigen. An Mannigfaltigkeit und Kühnheit der Gipfelformen sind die 
Dolomiten ohnegleichen, ihre vorwiegend turmartige Gestaltung, die gleich „riesigenKristallen" 
phantastisch aufragenden Zinnen und Zacken bedingen die einzig großartigen Landschaftsbilder 
Südtirols, gegen welche selbst die gewaltigsten Bergformen der nördlichen Kalkalpen, wie 
Zugspitze, Watzmann u. a., bescheiden zurücktreten müssen. 
Vergebens suchen wir auf unserer Wanderung nach einer bestimmten Regelmäßigkeit in 
der Anordnung dieser Höhenzüge wie bei den nordalpinen Dolomiten. Letztere ziehen in einem 
System von j?arallelketten, die im ganzen der Hauptrichtung der Zentralalpen folgen, vom 
Rheine bis zur Donau und erlangen eine typische Ausgestaltung im Wetterstein- und Kar- 
wendelgebirge. Südtirol dagegen kennt diese j^arallelketten nicht. Ein Blick anf eine gute 
Karte dieses Landes überzeugt uns, daß es in eine Anzahl unregelmäßig verteilter Gebirgs- 
stöcke zerfällt, die durch breite, niedrige Einsattelungen voneinander völlig getrennt sind. 
Jeder Stock bildet ein Gebirge für sich, und diese fast inselartige Sonderung der Massive,
	        
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