Zweiter Abschnitt.
Musterbeispiele zu äen ucrlciuedcucn Ztikgattuugen.
A. Erzählungen.
45. Die gute Mutter.
I. P. Hebel.
Im Jahre 1796, als die französische Armee nach dem Rückzüge aus Deutsch¬
land jenseits hinab am Rheine lag, sehnte sich eine Mutter in oer Schweiz nach
ihrem Kinde, das bei der Armee war, und von dem sie lange nichts erfahren
hatte, und ihr Herz hatte daheim keine Ruhe mehr. „Er muß bei der Rhein¬
armee sein," sagte sie, „und der liebe Gott, der ihn mir gegeben hat, wird mich
zu ihm führen." Und als sie auf dem Postwagen zum St. Johannis-Thor in
Basel heraus und an den Rebhüusern vorbei ins Sundgau gekommen war, treu¬
herzig und redselig, wie alle Gemüter sind, die Teilnehmung und Hoffnung
bedürfen, und die Schweizer ohneden^ erzählte sie ihren Reisegefährten bald, was
sie auf den Weg getrieben hatte. „Finlff ich ihn in Colmar nicht, so geh' ich
nach Straßburg; find' ich ihn in Straßburg nicht, so geh ich nach Mainz."
Die anderen sagten das und jenes dazu, und einer fragte sie: „Was ist denn
Euer Sohn bei der Armee? Major?" Da wurde sie fast beschämt in ihrem In¬
wendigen. Denn sie dachte, er könnte wohl Major sein oder so etwas, weil er
immer brav war; aber sie wußte es nicht. „Wenn ich ihn nur finde," sagte sie,
„so darf er auch etwas weniger sein; denn er ist mein Sohn." Zwei Stunden
herwärts Colmar aber, als schon die Sonne sich zu den Elsässer Bergen neigte,
die Hirten heim trieben, die Kamine in den Dörfern rauchten, standen die Sol¬
daten in dem Lager nicht weit von der Straße partienweise mit dem Gewehr
bei Fuß, und die Generale und Obersten standen vor dem Lager beisammen,
unterhielten sich miteinander, und eine junge, weißgekleidete Person von weib¬
lichem Geschlecht und seiner Bildung stand auch dabei und wiegte auf ihren
Armen ein Kind. Die Frau int Postwagen sagte: „Das ist auch keine gemeine
Person, daß sie nahe bei den Herren steht. Was gilt's, wer mit ihr redet, ist ihr
Mann." Der geneigte Leser fängt allbereits an etwas zu merken, aber die Frau
im Postwagen merkte noch nichts. Ihr Mutterherz hatte noch keine Ahnung, so
nahe sie an ihm vorbeigefahren war, sondern bis nach Colmar hinein war sie still
und redete nimmer. In der Stadt im Wirtshaus, wo schon eine Gesellschaft an
der Mahlzeit saß, und die Reisegefährten sich auch noch setzten, wo Platz war,
da war ihr Herz erst recht zwischen Bangigkeit und Hoffnung eingeengt, daß sie
jetzt etwas von ihrem Sohne erfahren könne, ob ihn niemand kenne, und ob er
noch lebe, und ob er etwas sei, und sie hatte doch den Mut fast nicht zu fragen.
Denn es gehört Herz dazu, eine Frage zu thun, wo man das Ja so gerne hören
möchte uno das Rein doch möglich ist. Auch meinte sie, jedermann merke es,
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