VI
Vorwort.
Je tiefer diese Erkenntnis dein Schüler eingeprägt ist, je klarer ihm diese gegen-
seitige Abhängigkeit des Menschen und des Bodens geworden ist, desto freier darf
auf der Oberstufe der Unterricht gestaltet werden. Der erdkundliche Unterricht
der Oberstufe hat darin seine Aufgabe zu suchen, von dieser hohen, im Laufe der
Schuljahre erreichten Warte herab rückwärts zu schauen auf den Weg, der all-
mählich zu diesem Ziele geführt hat; der Blick wird hier unb da noch einmal ver¬
weilen wollen, diese oder jene Erscheinung, die nur kurz vielleicht gestreift werden
konnte, noch näher betrachten und damit neue Beziehungen herstellen wollen.
Wenn das vorliegende Buch zusammengestellt wurde, bei dieser Aufgabe
mitzuhelfen, so geschah es vor allen: mit Rücksicht darauf, daß der Erdkunde in: all
gemeinen nur die Stellung einer Hilfswissenschaft zugewiesen wurde, die auf der
Oberstufe vielfach nur gelegentlich betrieben wird. Vielleicht stiftet das Lesebuch
gerade dort besonderen Nutzen. Es ist ja eine leider nicht bestreitbare und immer
wieder betonte Tatsache, daß unsere Schuljugend gerade in denjenigen Jahren,
in denen das Verständnis für Entwicklungsfragen des Bodens und der Menschheit,
für volkswirtschaftliche und handelspolitische Fragen zu erwachen beginnt, durch
Vorenthaltung des erdkundlichen Unterrichts gezwungen wkd, darüber hinwegzu¬
sehen. Das oft brennende Verlangen und der hingebende Eifer, der bei gelegent-
lichem Streifen dieser Fragen von der Mehrzahl der Schüler bezeugt wird, ergibt
die Richtigkeit dieser Beobachtung.
Das vorliegende Buch ist zunächst angeregt worden durch die neuen Lehr-
Pläne über die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens von 1908, wo es
in den AusMrungsbestimmnngen (S. 58) heißt: „Wissenschaftliche geographische
Literatur ist nach Möglichkeit in kurzen, ausgewählten Aufsätzen oder Abschnitten
größerer Werke heranzuziehen."
Da diese nicht immer leicht zu beschaffen sind und höchst selten die Möglich-
keit vorhanden sein wird, allen Unterrichtsteilnehmern gleichzeitig den Aufsatz in
die Hände zu geben, erscheint die Herausgabe dieses Buches gerechtfertigt, um
dieser höchst förderlichen Bestimmung genügen zu können.
Die oben dargelegten Bemerkungen, die für die Zusammenstellung des
Buches mit maßgebend gewesen sind, mögen aber bezeugen, daß jede andere Lehr-
anstatt, bei der die Erdkunde — und sei es nur zeitweise — Eingang gefunden
hat, daraus Nutzen ziehen kann.
Die Auswahl der Abschnitte kann bei der Fülle des Materials nur subjektiv
sein; sie ist teils nach historischen, teils nach sachlichen Gesichtspunkten erfolgt.
In einem Lesebuch der Erdende dürfen Namen wie A. v. Humboldt, Karl Ritter
und Oskar Peschel nicht fehlen, selbst auf die Gefahr hin, daß manche ihrer An-
schauungen und Urteile von der Forschung späterer Jahre überholt worden sind.
Im Gegenteil: ich sehe darin eher einen Vorteil als einen Nachteil, wenn gerade
an der Hand jener Aufsätze die Schüler neuere Ansichten entwickeln lernen, so