7. Der Mensch als Teil der Erdoberfläche.
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war erst Naturforscher und Physiker, ehe er zum Meister der Logik und Metaphysik
ward. Auch Kant ward Mathematiker und Astronom, ehe er zur Metaphysik
und Kritik der reinen Vernunft, den höchsten Aufgaben der Wissenschaft, fort-
schritt. S ch e l l i n g ging aus der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes
über.
Nur zu häufig werden solche Vorstudien übersprungen. Die Spekulationen
schwebten dann auch in der Luft ohne festen Boden und stürzten von selbst zusam-
meu. Der Hochmut im nur scheinbaren Wissen und Denken kommt auch hier durch
sich selbst zum Falle!
7. Der Mensch als Teil der Erdoberfläche.
Von Friedrich Ratzel^).
Auf der Erde und aus deren Stoffen gebildet, aus einer langen Reihe von
Vorgängern von gleichem Ursprung und gleicher Erdgebundenheit entwickelt,
kann der Mensch unmöglich anders denn als ein erdgebundenes Wesen aufgefaßt
werden. Der einzelne hat sein Haus und zuletzt sein Grab auf oder in einem
Stück Boden, das Volk sein Land, die Menschheit die Erde. Lage, Raum und Gren-
zen der Menschheit und der Völker sind in die Erdoberfläche eingezeichnet, und
schon in der Lage und den Umrissen der Erdteile künden sich Unterschiede an,
die in der Geschichte und im Wesen ihrer Völker irgendwann zum Ausdruck kommen
werden. Weiter empfängt jedes Volk eine Mitgift von dem Teil der Erde, in dem
es wohnt. Beim Grönländer ist es Schnee und Eis, beim Australier die Dürre des
Steppenklimas, beim Afrikaner tropische Wärme, gemäßigt durch die Hochland-
natur, aber auch versetzt mit Trockenheit.
Indem wir die Völker auf und mit ihrem Boden betrachten und beschreiben,
begegnen wir immer zahlreichen Spuren von ihren Bewegungen über die Erde
hin. Kein Völkergebiet ist beständig, bei jedem drängt sich uns die Frage auf:
Wie ist es geworden und gewachsen? Kein Volk der Erde erfüllt die mythische For-
derung, auf dem Boden entstanden zu sein, den es einnimmt; es folgt daraus der
Schluß, daß es gewandert und gewachsen ist. Es wird auch nicht immer auf diesem
Boden bleiben, wie uns die Geschichte der verschwindenden, auswandernden,
Völkerzweige treibenden Völker lehrt. Und allen diesen Bewegungen weist die
Erde mit ihren tausend Verschiedenheiten der Lage, des Raumes, der Bodengestalt,
der Bewässerung und des Pflanzenwuchses Wege, sie hemmt, fördert, verlang-
samt, beschleunigt, zerteilt, vereinigt die sich bewegenden Massen. Erforscht nun
die Geographie diese Vorgänge, so berührt sie sich eng mit der Geschichte, denn
auch die Geschichte betrachtet die Menschheit in Bewegung; nur blickt sie in der
Regel nicht durch die Menschheit durch bis auf den Boden, uud umgekehrt sieht die
Geographie in allen diesen Bewegungen den Boden gleichsam durchscheinen.
x) Die Erde und das Leben. Eine vergleichende Erdkunde. 2 Bde. Leipzig, Wien, Biblio-
graphisches Institut, 1902. Bd. II, S. 630 ff.