Die Flüsse. 52
teils zurück und würde, wenn allein die Stromlänge entschiede, zu den
ersten Gewässern der Erde gezählt werden müssen; aber auf zwei, drei
Zuflüsse beschränkt, zuletzt in eine 250 Meilen lange Gebirgsenge ein—
geklemmt, gleicht er einem riesigen Stamme ohne Äste: gewissermaßen
ein Symbol des gliederlosen Kontinents selbst dem er angehört. Und
läßt sich nun auch nicht dasselbe vom Niger und Zambese sagen, so würden
doch alle drei zusammen nicht ausreichend sein, um einen Amgzonas
zu schaffen, dessen Flußgebiet kaum den vierten Teil des Flächen—
inhalts von Afrika ausfüllt. Daher ist denn die Geschichte an jenen
Küsten seit Jahrtausenden schweigend vorübergegangen, und die schwarze
Bevölkerung derselben steht noch immer auf einer tiefen Stufe der
Menschlichkeit. Die edlere, zum Teil in sagenhaftem Lichte glänzende
Bildung aber, welche einst auch dort gedieh, heftete sich bekanntlich an
einen schmalen Streif des Mittelmeergestades und an das Thal des
Nils, wie wiederum die kühnen Entdecker unserer Tage nur dadurch
in das geheimnisvolle Festland vorzudringen vermögen, daß sie ihre
Schritte nach einem der größeren Flüsse lenken oder ihnen folgen.
Beide Thatsachen sind selbstredend; denn beide beweisen, daß die Ent—
wickelung der Küsten nur durch die Entwickelung von Strömen ersetzt
werden kann, welche der menschlichen Gesittung den Zutritt in das
Innere großer Ländermassen erleichteern. Und um nun auch das
Gegenbild zu zeigen — wie bevorzugt scheint in dieser Hinsicht Amerika,
und wie schnell ist dort jede Pflanzung europäischen Geistes empor—
geblüht! Allerdings gilt dies zunächst mehr von dem reichgegliederten
Norden als von dem Süden Amerikas, der in der Einfachheit, um
nicht zu sagen Einförmigkeit, seiner Küsten fast an Afrika mahnt. Aber
wiederum ist gerade er das Mutterland der Riesenströme, und wer
möchte bezweifeln, daß, wenn diese sich der Schiffahrt in ausgedehnterer
Weise öffnen, auch der Süden in jene innige Gemeinschaft mit Europa
und europäischer Zivilisation treten werde, welche den Norden längst
zu einer neuen Welt“ gemacht hat? Schon wird der Amazonas auf
einer Strecke von mehr als 600 Meilen bis zu den Abstürzen der
Anden befahren; auf dem Parans und Paraguay gehen die Dampfer
bis Cuyaba tief ins Innere Brasiliens; der Orinoko trägt Seeschiffe
bis Angostura (60 Meilen von seiner Mündung), und für kleinere
Schiffe ist er mehr als 200 Meilen weit zu allen Jahreszeiten fahrbar.
Inzwischen mag man sich auch hier vergegenwärtigen, daß über
alle Gunst oder Ungunst der Naturverhältnisse der Genius der Mensch—
heit in ewiger Freiheit steht und strebt. Die Ströme bedingen nicht,
sie vermitteln nur die Bildung. Und so können sie denn auch nur
da mit jener entscheidenden Bedeutsamkeit eingreifen, wo ein sinniges
und regsames Volk an ihren Ufern die bleibende Wohnstätte findet.
In Amerika hat darum weder am Mississippi noch am Amazonas,
weder am Orinoko noch am Strompaar des Laplata sich ein reicheres
Leben entwickelt, weil den rotfarbigen Stämmen jener geistzündende
Trieb, der den Menschen in und aus sich selbst die höheren Ziele
suchen läßt, im allgemeinen versagt zu sein scheint. Abgesehen von