Full text: [Bd. 1, Abth. 1] (Bd. 1, Abth. 1)

16. Erdbeben. 
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Lucan, Seneca, Ammianus Marcellinus und sämtliche Annalisten berichten 
uns Vorkommnisse, welche das getreue Abbild und gewissermaßen die genaue 
Wiedergabe der Begebenheiten unserer Tage sind. Lncan bewerft, daß durch 
Erdbeben die alten Säulen von Palmyra und Baalbek vollends umgestürzt 
seien, welche die Zeit und die Wnth des Menschen verschont hatte. 
Sicher ist es, daß keine zerstörende Gewalt eine schrecklichere Kraft übt 
und mehr Menschen auf einmal in einem so kurzen Zeiträume hinweg-- 
raffen kann als ein Erdbeben. Die Städte Syriens und die griechischen 
Inseln wurden in den ersten Jahren unserer Zeitrechnung samt ihren Bewoh- 
nern beinahe vernichtet. Unter Tiberins und Justinus kamen in Kleinasien 
und Syrien fast 200,000 Menschen um. Die Chronikenschreiber des Mittel- 
alters führen ebenso grauenhafte Zeugnisse für die folgenden Jahrhunderte 
an. Dem Erdbeben auf Sidlien im Jahre 1693 fielen 60,000 Menschen zum 
Opfer, und noch nicht ein Jahrhundert später 1783 fanden 80,000 Personen 
fast an denselben Orten ihren Tod. Das Erdbeben von 1755, welches 
Lissabon zerstörte und die Küsten Spaniens und Nordafrikas erschütterte, 
kostete 60,000 Menschenleben; 40,000 kamen in Amerika durch das Erd- 
beben von Riobamba im Jahre 1797 um. Die Liste dieser traurigen Vor- 
fälle ließe sich leicht noch vergrößernd) 
In der That hat kein anderes Naturereigniß das menschliche Gemüth mit 
gleichem Schrecken erfüllt. Führt man an, daß 30,000 oder 40,000 Perso- 
nen bei einem Erdbeben das Leben verloren, so kann diese bloße Anführung 
doch noch immer keine richtige Vorstellung von dem Unglück geben, welches 
die Katastrophe unmittelbar begleitet hat und welches auf sie gefolgt ist. 
Nur diejenigen, die einem solchen Unheile entgangen sind, können uns sagen, 
unter welchen schrecklichen und verschiedenartigen Formen der Tod sich ihnen 
gezeigt hat; nur diese wissen, welche unsäglichen Qualen die lebendig begra- 
benen Opfer zu ertragen gehabt haben, deren herzzerreißende Klagen man bis 
zu ihrem letzten Kampfe vernimmt, ohne ihnen Hülfe bringen zu können. 
Sache der Augenzeugen ist es, die Lage derer zu schildern, welche, tödtlich 
verwundet, dem Tode dennoch auf eine wunderbare Weife entgingen. Sie 
können erzählen von Verunglückten, die in einem Augenblicke vernichtet wur- 
den; von Reichen, die an den Bettelstab kamen; von Städten, die vom 
Angesicht der Erde verschwanden; von der Hemmung, welche der Fortschritt 
der Eivilisation und des National-Wohlstandes durch eine Naturgewalt erlei- 
det, die fruchtbare Thäler in Seen verwandelt oder sie mit den aufgehäuften 
Trümmern der benachbarten Hügel ausfüllt. 
*) Die heftigsten Erdbeben, deren die Geschichte gedenkt, erfolgten im Jahre 370 und 
377 vor Chr., sodann nach Chr. in den Jahren 1009, 1117, 1146, 1290, 1356, 1531, 
1575, 1597, 1598, 1699, 1722, 1724, 1755, 1761, 1796, 1807, 1828, 1840.' 
Masius, geogr. Charakterbilder. 10
	        
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