104
72. Der Kalklstein.
lassen. Ganz gemach werden überall hleine, kaum sichtbare
Teilchen von den Felsen hinweggenommen. Hier und da, wenn
man durch die Berge wandelt, hört man einen Stein herabschlagen;
es klingt wie der Schall einer Axt. Das ist einer von jenen zahl-
losen Hammerschlägen, unter deren Gepoche die Berge zusammen-
sinken. Aber der menschliche Geist ringt vergebens, die Zahl der
Jahre zu ermessen, in denen die riesigen Berge von den zahllosen
Wassertrõpfchen in Stãaubchen hinuntergetragen sein werden in das
unergründliche, weite Meer.«
72. Der Kalkstein.
Nach Hermann Wagner.
Du hast den Kalkstein schon oft gesehen, bist auf dem Kalkberge
spazieren gegangen, der den hellgrünen Buchenwald trägt. Zwischen den
grünen Rasenplätzen und lieblichen Büschen, zwischen blühenden Blumen
und weichem Moos heraus schauen dich die weißen Kalksteine gar sonder—
bar an. Sie ähneln an Farbe und oft auch an Gestalt den Knochen,
die an der Sonne bleichen. Es will dich bedünken, als sei rings um
dich ein Totenfeld und der ganze Berg ein großer Leichenhügel. Jeder
einzelne Stein kommt dir vor als ein Wesen ohne Leben, tot von ewigen
Zeiten her und tot auch für alle Zukunft. Und doch wirkt der liebe
Gott auch in ihm; doch hat er auch ihn mit Kräften gefüllt. Auch er
hat seine Erlebnisse. Geduldig und ruhig liegen die Steine beisammen.
Sie zeigen sich so stumpf und teilnahmslos gegen alles, was um sie her
vorgeht, daß man im Sprichwort von einem Menschen, der gegen nie—
mand Liebe hat, zu sagen pflegt: „Er hat ein Herz wie Stein.“ Doch
täuscht hier der Schein gar sehr. Der Kalkstein vermag außerordentlich
leidenschaftlich zu lieben, obschon er seine Freunde unsern neugierigen
Augen sorgsam verbirgt. Welches sind nun seine auserwählten Ge—
fährten? Er, der unbeweglich liegende feste Stein, erkor sich lustige, leichte
Gesellen zu seinen Genossen: das Wasser und die Kohlensäure.
Ein Kalkfelsen, der vier Millionen Zentner wiegt, enthält ungefähr
drei Millionen Zentner Kalk und eine Million Zentner Wasser. Aber
du kannst den Stein zerschlagen und findest kein Wasser in ihm. Selbst
das stärkste Vergrößerungsglas, unter dem ein Körnchen so groß er—
scheint wie ein Felsblock, zeigt noch nicht das Wasser und den Kalk,
jedes besonders, sondern beide als ein einziges Wesen. Woher weiß
man aber, daß es sich also verhält, da man doch nichts darin sieht?
Wir würden auch nimmermehr von der Freundschaft der beiden etwas