Full text: Charakterbilder aus Europa (Abt. 5)

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Die Tundra. 
6. Die Tundra. 
a) Name, b) Winter-, c) Sommerlandschaft. 
a) Das finnische Wort „Tuntur" bedeutet ein waldloses 
Gebirge und bezeichnet alle nördlich der Polarzone des Waldes 
gelegenen baumlosen Landstriche, in denen der Boden bis zu 
großer Tiefe gefroren ist und während des Sommers nur ganz 
oberflächlich austaut. — b) Im Winter ist die gefrorene, 
schneeverwehte Tundra, die in den skandinavischen Sagas „das 
Reich des Schreckens" heißt, eine grenzenlose, blendend weiße 
Ebene ohne Baum, ohue Strauch, ohne menschliche Ansiedelung. 
Das Eis der Flüsse ist von tiefem Schnee verhüllt, und der 
einsame Reisende kreuzt die Fläche in schnellem Schlitten, ohne 
311 ahnen, daß tiefe, fischreiche Gewässer unter ihm ruhelos 
dahinziehen. Bricht die Nacht herein, so treten bei dem Scheine 
des Nordlichts und des Mondes die Pelztiere der transuralischen 
Gegenden ihre geheimnisvolle Wanderung in die Tundra an. 
In langen, dichten Scharen huschen die Hermeline durch die 
nächtliche Stille; Marder, Füchse, Hasen folgen in endloser Zahl. 
Das Renntier scharrt das dürftige Moos unter dem Schnee 
hervor, nicht selten überfallen von seinem schlimmsten Feinde, 
dem gefräßigen Wolfe. Ost braust die „Purga", der grausige 
Schneesturm dieser Zone, in furchtbarer Majestät über die 
Tundra. Berge lockeren Schnees werden aufgetürmt und wieder 
auseinander gejagt und begraben unter ihrem lawinenartigen 
Fall den hilflosen Wanderer, das Zelt des wandernden Fischers 
und Jägers und die Rindenhütte des scheuen Eingeborenen. — 
c) Im kurzen Sommer ist die Tundra nicht wieder zu er- 
keimen. Von S. ziehen heran, wie dnnkle Wolken die Sonne 
verhüllend, zahllose Scharen von Polarenten, Gänsen und 
Schwänen. Zwischen den buntfarbigen Moosweideplätzen der 
Renntiere schimmern hier und dort klare Seen und Wasser- 
decken. Langsam fließen die menschenverlassenen, fischreichen 
Ströme gen N. Renntierherden löschen am Wasser den Durst. 
Dürftige Grasflächen mit verkrüppeltem Gesträuch durchsetzen 
in schmalen Streifen die trockneren Stellen; Wolken von Mücken 
und Bremsen erfüllen die Luft. Die unabsehbare Fläche bedeckt 
sich mit buntfarbigen Blüten, Sträuchern, zuweilen auch mit
	        
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