Die staatliche Organisation und das politische Leben Deutschlands. 207
Gestaltung ganz Deutschlands hatte freilich bei den widerstreitenden Bestre-
Hungen der beiden deutschen Großmächte noch auf Jahre hinaus mit mancherlei
Schwierigkeiten zu kämpfen. Denn auch im Volke felbst traten sich zwei große
politische Parteien gegenüber, deren eine das Zusammengehen mit Österreich
betonte, während die andre (später, 1859, im sogenannten deutschen National-
verein vertreten) ausschließlich durch Preußen eine starke deutsche Zentralgewalt
anstrebte. Es blieb schließlich nichts übrig, als durch offeueu Waffeuaustrag
zwischen den beiden Großstaaten die Frage der Einigung Deutschlands zu lösen,
wozu sich freilich damals Preußen noch nicht in geeigneter Lage befand. Erst
nachdem die Reorganisation der preußischen Armee von König Wilhelm durch-
geführt worden, leitete dann der Krieg zur Befreiung Schleswig-Hol-
steins (1864) den Entfcheiduugskampf ein, der die Ausschließung aus
Deutschland, eine bedeutende Vergrößerung Preußens und die Errichtung des
Norddeutschen Bundes mit einem gemeinsamen Parlamente (Reichstag)
herbeiführte. Den Entwurf zu der Verfassung des Norddeutschen Bundes hatte
der Ministerpräsident Otto von Bismarck schon vor dem Kriege mit Oster-
reich veröffentlicht; er enthielt zur großen Überraschung der bisherigen poli-
tischen Gegner desselben das Zugeständnis des allgemeinen direkten Wahl-
rechts für den Reichstag. Der durch den französischen Angriff im Juli
1870 veraulaßte Krieg mit Frankreich hat die Einigung des deutschen
Vaterlandes vollendet und die Erneuerung des Deutschen Reiches
herbeigeführt. Mit der Einigung ist auch eine gewaltige Erstarkung nnsres
Vaterlandes eingetreten; dasselbe steht groß und angesehen in der Welt da,
wie nie. Anderseits hat das geeinte Vaterland eine allgemeine Verfassung
gewonnen, welche den Wünschen des früheren Liberalismus im wesentlichen
entspricht. Mit den politischen Errungenschaften haben auch die Fortschritte
auf dem geistigen und materiellen Gebiete Schritt gehalten, denn im großen
Ganzen zeigt der gegenwärtige Stand der Erwerbsthätigkeit, daß unser
Vaterland rüstig vorwärts gekommen und die meisten andern
Kulturvölker in wichtigen Gebieten der Industrie u. dgl. über-
flügelt hat. Sonach schienen die Verhältnisse auf dem materiellen und
namentlich auch auf dem politischen Gebiete danach angethan, daß eine
ruhige EntWickelung eintreten, daß besonders die Vertretung des
deutschen Volkes im Reichstage das entschiedene Bestreben zeigen
könnte, mit dem Kaiser und seiner Regierung vertrauensvoll Hand
in Hand zu gehen. Leider ist dies nicht immer der Fall gewesen.
Die Vertretung des endlich geeinten Vaterlandes hat durch starke Spal-
tung in einander widerstrebende Parteien und oftmals auch durch scharfe
Opposition gegen den ehrwürdigen Begründer des Reichs und seine hoch-,
verdienten Ratgeber bewiesen, daß die traurige Zeit nationaler Zerklüftung
noch nicht völlig überwunden ist. Wohl konnten sich in Einzelfragen Mei-
nungsverfchiedenheiten geltend machen, ohne Schaden für die Allgemeinheit
zu bringen, doch großen nationalen Fragen gegenüber hätte man alle
deutschen Parteien einig gewünscht in dem Bestreben, gemeinsam mit uuserm
Kaiser und seinen Räten das Reich zu festigen und zu stärken — finanziell
wie militärisch. Dieser Wunsch ist nicht vollkommen in Erfüllung gegangen,
wenn auch an Zeitpunkten ernsten Konflikts ein Appell an das deutsche