208 Siebentes Kapitel.
Volk genügte, um gemäßigte Elemente in genügender Zahl einem neuen Reichs-
tage zuzuführen, so daß diejenigen Maßregeln, welche eine weise Staatsknnst,
insbesondere für die Wehrkraft Deutschlands und für die notwendige Stärknng
der Reichsarmee, als dringlich geboten erachtete, durchdringen konnten.
Wir überblicken die Parteien, die, wie schon früher gezeigt, in der-
schiedener Stärke den deutschen Reichstag erfüllen:
1) Die Partei der Deutschkouservativen. Im Jahre 1873 hatte
sich, zunächst im preußischen Landtage, eine „neue konservative Partei" gebildet,
neben welcher die Fraktion der „Altkonservativen" vorläufig fortbestand. Als
sich beide Parteien später wieder vereinigten, blieben doch zwei einander wider-
strebende Elemente gesondert in demselben äußeren Verbände bestehen. Dann
bildete sich 1876 eine Fraktion der „Deutschkonservativen", offenbar doch in
der Absicht, über der konservativen Politik die nationalen Aufgaben nicht
zu vergessen, ja, sich in erster Linie bei ihren Entscheidungen durch patrio-
tische Beweggründe leiten zu lassen. Und man muß, wenn man die Geschichte
der letzten Jahre überschaut, bei uubefaugeuer Beurteilung zugeben, daß die
Gesamtheit dieser Partei bei schwerwiegenden Fragen von großen nationalen
Gesichtspunkten geleitet worden ist, daß ihr also auch die Fortschritte, welche
uusre Nation an materieller Wohlfahrt wie an Stärke nnd Einheit gemacht
hat, wesentlich mit zn verdanken sind.
2) Die deutsche Reichspartei. Während der gewaltigen Umgestal-
hingen des Jahres 1866 bildete sich eine „freie konservative Vereinigung" oder
..freikonservative Partei", welche sich ganz und voll auf den Boden der nenen
Bundesverfassung stellen wollte und deshalb später auch im Reichstage deu
Namen der „deutschen Reichspartei" angenommen hat. Den Bestrebungen
der Reichsregieruug, das Reich zu sichern und auszubauen, namentlich auch
deren Maßregeln sür deu Schutz der uatioualeu Arbeit, hat sie stets rück-
haltslos ihre Unterstützung geliehen nnd ebenso entschieden diejenigen Par-
teien und Richtuugeu bekämpft, welche der Verwirklichung dieses Zieles
entgegenstanden.
3) Die nationalliberale Partei. Nach der Gründung des Nord-
deutschen Bundes und dann vollends nach den großen Ereignissen der Jahre
1870 und 1871 fand sich im deutscheu Parlament eine Partei, welche zwar
eine liberale Richtung in Fragen der inneren Politik vertrat, aber in allen
großen nationalen Fragen entschieden zu Kaiser und Reich zu stehen ent-
schlössen war. Dieser „nationalliberalen Partei", welche in der zweiten
Legislaturperiode (1874) 155 Mitglieder zählte, hat das Vaterland in der
That viel 5u verdanken, wenn sie anch, bei der starken Neigung ihrer hervor-
ragenden Mitglieder znr Geltendmachung theoretisch vorgefaßter Ansichten, den Er-
sordernissen des wirklichen Lebens nicht immer Rechnung zu tragen vermochte.
4) Äie „deutschfreisinnige" Partei. Als nach der Neugestaltung
Deutschlands infolge des Krieges mit Österreich der größte Teil der früheren
Opposition die von der Regierung dargebotene Hand der Versöhnung ergriff
und zur uatioualliberalen Partei zusammentrat, blieben die Unversöhnlichen
weiter als Fortschrittspartei bei einander- denn besangen in den An-
schauungen des alten Liberalismus, der in dem Gegensatze zur bestehenden
Staatsgewalt die eigentlichen Wurzeln seiner Kraft besaß, mochten sie die