246 Amerika. 
Ähnliche Formen zeigen manche Waldbäume. Sie ruhen zwar nicht 
völlig auf solchen Luftwurzeln, wie die Mangrovien in den brakigen 
Sümpfen des Küstenlandes, allein ihr Stamm entsendet schmale, hohe 
Stützen in die Runde, die ihn gleich Strebepfeilern tragen helfen. Wie- 
wohl sie viele Klafter weit ausladen nnd eine entsprechende Höhe er- 
reichen, so bleiben diese Stützen doch so schmal, daß der Indianer mit 
seinem Waldmesser sich aus ihnen eine Thür für seine Hütte heraus- 
schlagen kann. Und hart neben diesem Riesen, dessen massige Säule mit 
ihren Strebepfeilern gleich einer Festung im Walde dasteht, schießt eiu 
wunderliches Gebilde in die Lüfte: ein dünner, nur armdicker Stamm 
erhebt sich, wie ein Pfropfenzieher gewunden, weit über Haushöhe, und 
gänzlich astlos trägt er nur auf seiner Spitze einen spärlichen Kranz 
eschenartig gestellter Blätter. Den Namen dieses grotesken Geschöpfes 
konnte ich nicht erfahren; denn hierzulande darf man überhaupt von niemand 
irgend welche Auskunft erwarten. 
Wer im UrWalde Jaguare, Tapire und Ameisenbären jagen will, dem 
steht eine gründliche Enttäuschung bevor. Das Wild ist nichts weniger 
als selten, allein durch das Unterholz ihm zu folgen, ist nur dem Indianer 
möglich. Ein Glücksfall mag ein Raubtier wohl zu Schuß bringen; doch 
würde ich niemand raten, auf diese ungewisse Aussicht einen Jagdaus- 
flng hierher zu machen. Affen sind häufig, und öfters habe ich sie in 
nächster Nähe gesehen; ihre Jagd besitzt indes kaum einen Reiz sür den 
Weidmann. Früher hatte ich mir wohl den Kopf zerbrochen, woher der 
Ameisenfresser, ein Tier, so groß wie ein Hühnerhund, seine Nahrung 
nehmen möchte; ich konnte nicht begreifen, daß er von einer fo winzigen 
Speise die genügende Menge finden könnte, selbst wenn er den lieben 
langen Tag nichts thäte, als Ameisenhaufen plündern. Hier wurden 
meine Zweifel gelöst. So unendlich der Makrokosmus *) des Waldes, so 
überreich ist der Mikrokosmus seines Feindes, der Ameise. Auf Schritt 
und Tritt kreuzt man die Gänge der fleißigen Tiere. Eine jede schleppt 
das ausgeschnittene Blattstückchen dem Baue zu; oft ist die Beute zehu- 
mal so lang und breit wie das Tier selber. Wie wunderbar ihr Instinkt 
ist, kouute ich an einem einzigen Blatte zur Genüge ermessen. Aus der 
großen Fläche hatten sie völlig regelmäßig nnd schachbrettförmig die 
Vierecke ausgeschnitten, ein jedes etwa einen Centimeter im Geviert. 
Hätten sie ungeordnet die Blattsläche nach allen Richtungen zersägt, so 
würde das Blatt schließlich abgefallen nnd verdorben sein; so jedoch 
konnten sie jedes geringste Teilchen bis auf die letzte Spitze nutzbar ver- 
wenden. Andere Ameisen zernagen die Bäume selber, wieder anbere 
mögen sich von faulenden Körpern nähren. Daß alle Größen unter ihnen 
1) Makrokosmus, die Welt im großen, im Gegensatz zum Mikrokosmus, der 
Welt im kleinen.
	        
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