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Ähnliche Formen zeigen manche Waldbäume. Sie ruhen zwar nicht
völlig auf solchen Luftwurzeln, wie die Mangrovien in den brakigen
Sümpfen des Küstenlandes, allein ihr Stamm entsendet schmale, hohe
Stützen in die Runde, die ihn gleich Strebepfeilern tragen helfen. Wie-
wohl sie viele Klafter weit ausladen nnd eine entsprechende Höhe er-
reichen, so bleiben diese Stützen doch so schmal, daß der Indianer mit
seinem Waldmesser sich aus ihnen eine Thür für seine Hütte heraus-
schlagen kann. Und hart neben diesem Riesen, dessen massige Säule mit
ihren Strebepfeilern gleich einer Festung im Walde dasteht, schießt eiu
wunderliches Gebilde in die Lüfte: ein dünner, nur armdicker Stamm
erhebt sich, wie ein Pfropfenzieher gewunden, weit über Haushöhe, und
gänzlich astlos trägt er nur auf seiner Spitze einen spärlichen Kranz
eschenartig gestellter Blätter. Den Namen dieses grotesken Geschöpfes
konnte ich nicht erfahren; denn hierzulande darf man überhaupt von niemand
irgend welche Auskunft erwarten.
Wer im UrWalde Jaguare, Tapire und Ameisenbären jagen will, dem
steht eine gründliche Enttäuschung bevor. Das Wild ist nichts weniger
als selten, allein durch das Unterholz ihm zu folgen, ist nur dem Indianer
möglich. Ein Glücksfall mag ein Raubtier wohl zu Schuß bringen; doch
würde ich niemand raten, auf diese ungewisse Aussicht einen Jagdaus-
flng hierher zu machen. Affen sind häufig, und öfters habe ich sie in
nächster Nähe gesehen; ihre Jagd besitzt indes kaum einen Reiz sür den
Weidmann. Früher hatte ich mir wohl den Kopf zerbrochen, woher der
Ameisenfresser, ein Tier, so groß wie ein Hühnerhund, seine Nahrung
nehmen möchte; ich konnte nicht begreifen, daß er von einer fo winzigen
Speise die genügende Menge finden könnte, selbst wenn er den lieben
langen Tag nichts thäte, als Ameisenhaufen plündern. Hier wurden
meine Zweifel gelöst. So unendlich der Makrokosmus *) des Waldes, so
überreich ist der Mikrokosmus seines Feindes, der Ameise. Auf Schritt
und Tritt kreuzt man die Gänge der fleißigen Tiere. Eine jede schleppt
das ausgeschnittene Blattstückchen dem Baue zu; oft ist die Beute zehu-
mal so lang und breit wie das Tier selber. Wie wunderbar ihr Instinkt
ist, kouute ich an einem einzigen Blatte zur Genüge ermessen. Aus der
großen Fläche hatten sie völlig regelmäßig nnd schachbrettförmig die
Vierecke ausgeschnitten, ein jedes etwa einen Centimeter im Geviert.
Hätten sie ungeordnet die Blattsläche nach allen Richtungen zersägt, so
würde das Blatt schließlich abgefallen nnd verdorben sein; so jedoch
konnten sie jedes geringste Teilchen bis auf die letzte Spitze nutzbar ver-
wenden. Andere Ameisen zernagen die Bäume selber, wieder anbere
mögen sich von faulenden Körpern nähren. Daß alle Größen unter ihnen
1) Makrokosmus, die Welt im großen, im Gegensatz zum Mikrokosmus, der
Welt im kleinen.