Stellung der Naturwissenschaften.
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Bezeichnungen im Interesse praktischer Kürze und Schnelligkeit aus das Not¬
wendigste zurückgeführt und dadurch unbestimmter gemacht. Das küßt sich
auch an den modernen europäischen Sprachen in Vergleich mit dem Lateinischen
deutlich erkennen; am weitesten ist in dieser Richtung des Abschleisens das
Englische vorgeschritten. Darin scheint es mir auch wesentlich zu beruhen,
daß die modernen Sprachen als Unterrichtsmittel viel weniger geeignet sind,
als die älteren.
Wie die Jugend an der Grammatik gebildet wird, so benutzt man mit 26
Recht das juristische Studium aus ähnlichen Gründen als Bildungsniittel für
ein reiferes Lebensalter, auch wo es nicht unmittelbar durch die praktischen
Zwecke des Berufes gefordert wird.
Das entgegengesetzte Extrem von den philologisch-historischen Wissen- 27
schäften bieten nun in Bezug auf die Art geistiger Arbeit die Naturwissen¬
schaften dar. Nicht als ob nicht auch in manchen Gebieten dieser Wissen¬
schaften ein instinktives Gefühl für Analogieen und ein gewisser künstlerischer
Takt eine Rolle zu spielen hätten. In den naturhistorischen Fächern ist im
Gegenteile die Beurteilung, welche Kennzeichen der Arten als wichtig für die
Systematik, welche als unwichtig zu betrachten seien, welche Abteilungen der
Tier- und Pflanzenwelt natürlicher seien als andere, wesentlich nur einem
solchen Takte überlassen, der ohne genau definierbare Regel verfährt. Be¬
zeichnend ist es auch, daß zu den vergleichend anatomischen Untersuchungen
über die Analogie entsprechender Organe verschiedener Tiere und zu der ana¬
logen Lehre von der Metamorphose der Blätter im Pflanzenreich ein Künstler,
nämlich Goethe, den Anstoß gegeben hat, und daß durch ihn die wesentliche
Richtung vorgezeichnet wurde, welche die vergleichende Anatomie seit jener
Zeit genommen hat. Aber selbst in diesen Fächern, wo wir es noch mit den
unverstandensten Wirkungen der Lebensvorgänge zu thun haben, ist es im all¬
gemeinen viel leichter, allgemeine umfassende Begriffe und Sätze aufzufinden
und scharf auszusprechen, als wo wir unser Urteil auf die Analyse von Seelcn-
lhütigkeiten gründen müssen. In vollem Maße. ausgeprägt zeigt sich der be¬
sondere wissenschaftliche Charakter der Naturwissenschaften erst in den experimentie¬
renden und mathematisch ausgebildeten Fächern, am meisten in der reinen
Mathematik.
Der wesentliche Unterschied dieser Wissenschaften beruht, wie mir scheint, 28
darauf, daß es iu ihnen verhältnismäßig leicht ist, die Einzelsälle der Beob¬
achtung und Erfahrung zu allgemeinen Gesetzen von unbedingter Gültigkeit
und außerordentlich umfassendem Umfange zu vereinigen, während gerade dieses
Geschäft in den zuerst besprochenen Wissenschaften unüberwindliche Schwierig¬
keiten darzubieten pflegt. Ja in der Mathematik sind die ersten allgemeinen