Full text: Bilder aus den Landschaften des Mittelrheins (Bd. 4)

Das Hinterland. 151 
Goethe-Werther nach Wetzlar kam. das Lahnthal besucht, in der Zeit, wo Wiese 
und Wald. Garten und Flur in ihrem blühenden Frühlingsschmucke prangen. 
Da wechseln sanft ansteigende Hügel und weite fruchtbare Thalflächen mit 
steilen waldigen Bergen und schroffen Felsgehängen; malerisch gelegene Klöster 
und altersgraue hochbethürmte Burgen winken hernieder zwischen freundlichen 
Dörfern und altehrwürdigeu Städten mit ihren Schlössern und hochragenden 
Kirchen, und an viele dieser Punkte knüpft sich manch glänzender Name alter 
und neuer Zeit, den mit Stolz das deutsche Volk in seiner Geschichte nennt. 
Das Kintertand. Bevor wir uns in dem mittleren und unteren Lahn- 
thal genauer umsehen, wollen wir noch einmal in die Landschaft hinaufsteigen, 
wo die Lahn ihren Ursprung hat, in das sogenannte Hinterland. Unter diesem 
Namen versteht man vorzugsweise den früher zu Hefsen-Darmstadt gehörigen 
Streifen Landes, der sich nördlich von Gießen etwa 12 Stunden weit in einer 
Breite von 2—3 Stunden zwischen den früheren nafsanischen und knrhessischen 
Landen uud Preußen hinaufzieht uud von dem aus dem Wittgensteinischen 
kommenden Lahnbach mehrere Stnnden weit durchflössen wird; doch dürfen wir 
auch die benachbarten Gegenden gleichen Charakters hinzurechnen. Es ist dies 
ein von der Welt zurückgezogenes Gebirgsland, dessen mächtige, kühn aussteigende 
Kuppen zum Theil eine Höhe von 630 m erreichen, mit tiefen engen Thälern. 
Die Berge find größtentheils mit herrlichen Wäldern bewachsen vom Kopf bis 
zum Fuß, während in der Tiefe sich schöne Wiesengründe hinziehen und spär- 
liches Ackerland; und dieses ist wenig ergiebig, theils wegen des rauhen Klimas, 
theils wegen des mageren Schieferbodens, der nur dann einen befriedigenden 
Ertrag liefert, wenn er eine außergewöhnliche Feuchtigkeit erhält. Aus diesem 
Grunde hat man hier in der Regel ein gutes Jahr, wenn es anderwärts Miß- 
ernten giebt. Was das Ackerland versagt, das ersetzt der Bevölkerung zum 
Theil der Wald; denn sie hat von alter Zeit her mancherlei Berechtigungen an 
den Wald und verdient einen Theil ihres Unterhaltes durch Holzfällung und 
die stark betriebene Kohlenbrennerei. Ueberhaupt sind die Einwohner wegen 
der Armnth des Bodens vorzugsweise auf die Verwerthung ihrer Arbeitskraft, 
auf die Industrie angewiesen. In der Landschaft selbst ist besonders die Eisen- 
indnstrie, das Hüttenwesen schon seit Jahrhunderten zu Hause. Die Eisenhütte 
zu Biedenkopf, dem an der Lahn gelegenen Hauptorte des Hinterlandes, wurde 
von dem Landgrafen Ludwig zu Marburg (1567 —1604) angelegt. Auch 
existirte schon seit dem Mittelalter in Biedenkopf eine blühende Wollenmanufaktur, 
und noch im Ansang dieses Jahrhunderts waren hier mehrere hundert Web- 
stühle beschäftigt. Aber diefer Erwerbszweig ist im Lause dieses Jahrhunderts 
sichtlich zurückgegangen, und auch die übrigen Zweige der Industrie konnten zu 
keinem rechten Leben gelangen, weil es in dem abgelegenen Gebirgslaude an den 
in unserer Zeit üblichen und nöthigen Verkehrsmitteln fehlt; die Landstraßen, 
obgleich in den letzten Jahrzehnten von den Regierungen Manches dafür gethan 
worden ist, verbinden die Gegend nicht in genügender Weise mit den Nachbar- 
landen, und eine Eisenbahn gehört noch heute zu den frommen Wünschen. Das 
kommt hauptsächlich daher, daß dieses Gebirgsland unter so viele Staaten 
getheilt war (Hessen-Darmstadt. Kurhessen, Nassau und Preußen), die sich alle 
durch Zoll- und Paßschranken abschlössen, die jeder, in kleinlicher Eisersucht gegen 
den andern, ihre Rechte und ihre Selbständigkeit zu wahren bemüht waren.
	        
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